Ca
O T RA AL ER ANJA
DAS AND ERE D E U TSC H'L A' N*D
ORGANO	D E	LOS	ALEMANES	DEMOCR ATICOS	D E	AMERICA	DEL S U Rj
							
AUS DEM INHALT:
Heinz Bier;
DAS DEUTSCHLAND-HILFSWERK
Pat Frank:
MERCADO NEGRO EN BERLIN
EIN NEUES BRAUNBUCH TUT NOT
August Biemsen:
POTSDAM, DIE ATOMBOMBE UND DAS ENDE DES KRIEGES
Ignacio Silone:
NIHILISMUS
Oda Lerda - Olberg:
LUISE KAUTSKY
*
Hans Jahn:
GEREIMTE UNWAHRHEIT UND UNGEREIMTE WAHRHEIT
Karl Goerdeler:
DIE SCHMACH VON MUENCHEN
BUENOS- AIRES • TUCUMAN 309 • 31 R E T I K O _ 7 2 6 4
15 DE A G O S T O DE 1 94 5 • A N O VII»
NUMERO 100
Die Registrierung
Unter der Aktennummer 22.098/45 er-
hielt Das Andere Deutschland vom ar-
gentinischen Innenministerium die
Nachricht, dass Deutsche, die den
Nachweis ihrer demokratischen Ge-
sinnung erbringen, von den beschrän-
kenden Vorschriften des Achsen-Re-
gisters ausgenommen werden können.
Damit hat die Behörde unseres Gast-
landes einer Bitte entsprochen, die
DAD in Vertretung aller deutschen
Antifaschisten in Argentinien unmit-
telbar nach Bekanntwerden der Vor.
Schriften dem früheren ' Innenmini-
ster Konteradmiral Alberto C. Teissai-
re eingereicht hatte.
Das Gesuch um Befreiung muss von
jedem einzeln eingereicht und an
"Su Excelencia el Mlnistro del inte-
rior, Casa de Gobierno, Capital Fede.
ral" gerichtet werden. Man muss ein
Stempelpapier von 2 Peso Wert be-
nutzen, das mit Maschine und nur
auf den vorgeschriebenen Linien be-
schrieben werden darf. In dem Ge-
such muss man unter Bezugnahme
auf die obige Aktennummer um Be-
freiung von den Bestimmungen des
Achsenregisters ersuchen. Es muss
ausser den üblichen Personalien ange-
geben werden:
1) wann eingewandert,
21 ob mit Argentinerki verheiratet,
3)	ob man argentinische Kinder hat,
4)	ob man in Argentinien Grund und
Boden besitzt,
5)	ob und mit welchen alliierten
Bankfirmen man in Beziehung ge.
standen hat und ob und bei wel-
chen alliierten Firmen man gear.
beitet hat,
6)	ob und welche Familienangehörigen
in den Heeren der Alliierten ge-
kämpft haben.
Das Gesuch wird dann auf dem In-
stanzenwege an die zuständige Poli-
zeibehörde weitergeleitet, die jeden
einzelnen Fall prüft und an das In-
nenministerium ein Gutachten zurück-
gibt, auf Grund dessen das Innenmini-
sterium seine Entscheidung fällt.
Für seine, ihm seit langem als zu-
verlässig bekannten Freunde stellt
DAD Bescheinigungen über die demo-
kratische Zuverlässigkeit aus, die dem
Gesuche beizufügen sind.
Solche Bescheinigungen können auch
an uns fernstehende deutsche Hitler,
gegher ausgestellt werden. Jedoch be-
halten wir uns vor, jeden einzelnen
Fall sorgfältig zu prüfen. Die Anga-
be von zweji Zeugen, die über die de.
mokratische Gesinnung und Betäti-
gung des Antragstellers aussagen kön-
nen, ist unerlässlich.
Allen Nachfragen aus dem innern ist
ausreichendes Rückporto beizulegen.
Sprechstunden des DAD-Büros wei-
terhin täglich zwischen 5 und 7 Uhr,
ausser Freitags und Sonntags.
Die Stellung dieses Antrages ist nicht
zeitlich befristet. Jedoch schliesst die
Staatenlosigkeit» - Erklärung unser
Verfahren aus.
Leu?sd;c ü^'icv ck 1
rrsnhufj c,lr, Main I
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
^ k v, c <f
MERCADO NEGRO EN BERLIN
por Pat Frank
A las 5 de la tarde funciona en el Alexanderplatz der Berlin el
bazar mds raro del mundo. Los precios ahi son fantdsticos.
Ha habido soldados americanos que vendieron sus relojes de
pulsera de 25 dolores, hasta por 600 dolores y han cambaiachea-
do dos paquetes de cigarrillos y una pastilla de jabon, por una
linda cdmara fotogrdfica. A la rec'iproca, ellos tambi6n han pa-
gado precios ridiculos por rarezas y algunos souvenirs .
De ordinario, tos rusos, con sacos de cuera y corpulentas, lle-
gan priir.ero a bordo de vehiculos conBscados a
o en sus propios camiones, o en carros tirads por caballos, que
son tan comunes en el ejercito rojo.
Esos mcscovitas vienen con" los bolsillos rebosantes de marcos
y existe una buena razon para que sean compradores y
dedores. La mayor parte de los soldados rusos reoiben ioda
paga atrasada, cuando entran en Berlin y algunos de ellos^hac
tres afios que no cobraban sueldo de ninguna clase; otros no
habian percibido la "soldada" en los ültimos 18 meses.
A todos r.e les ha pagado ahora en marcos y el dinero les yuema
literalmente los bolsillos, puesto que cuando regresen a Kusia
solo pueden llevar una cantidad limitada de numerano.
En el febrifugo traficar de la Alexanderplatz, los relojes de pul-
sera son.. como las acciones del acero en la bolsa de Nueva
York y tambiän hay una buena razon para esto. Durante los Ul-
timos diez anos, la industria rusa no tuvo tiempo de dedicarse
a fabricar relojes de pulsera y no se crea que el soldadc
moscovita es tan tonto, cuando paga hasta 500 dolores por uno
de esos cronömetros, pues cuando regrese a su casa es posi-
ble que pueda cambiarlo por una vaca, por un caballo o poi
un camion.
El comprador ruso (normalmente un teniente 6 capitdn, que son
los ünicos que paeden permitirse ese lujo) senala al relo) ae
pulsera en la muneca del norteamericano; este desata la co-
rreilla y lo hace con gran vacilacion, como si se fuera a cortar
la mono — fingiendo que no tiene ni deseos ni intencion de
venderlo.
El ruso lo mira, se encoge de hombros y se lo pasa a otro ca-
marada para que lo inspeccione. Ahora bien, hay ciertos rs-
cursos con los que el moscovita determina aparentemente el
valor del reloj en perspectiva. El no distingue entre relojes ca-
ros y baratos y la forma de avaluarlos es totalmente la de un
profano en la materia.
En primer lugar, se lo acerca al oido para oir el tic-tac y mien-
tras mds sonoro sea este, tanto mos le gusta. Los relojes redon-
dos les agradan mds que los de esiera cuadrada y prefiere el
acero inoxidable al oro.
El moscovita se pirra por un reloj con la esfera negra y los 11a-
mados de "Mickey Mouse" lo vuelven loco, pues estos a mds
de tener la figura del ratön tienen la esfera negra. El dueno de
un reloj "Mickey Mouse" puede sacarle a un ruso no solo hasta
el Taftimo marco, sino hasta la muela del juicio.
E soldado ruso comienza a ofrecer por el reloj estirando tres
dedos, lo cual significa 3.000 marcos o el equivalente de 300
dolores. El soldado norteamericano, segnn el reloj que pasea,
(si tiene segundero rojo, detalle que aumenta el valor, o la es-
fera negra) responde levantando y estirando bastantes mds de-
dos que el comprador potencial: por lo menos de cinco a ocho.
El ruso, entonces, finge retirarse y el norteamericano, dandö
muestras de gran regocijo vuelve a ponerse el reloj en la mu«
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
3
EIN NEUES BRAUNB UCH TUT NOT
DAS DEUTSCHLAND HILFSWERK
Seine Ziele und Aufgaben
von Heinz Bier (prov. Sekretär)
Ein Sturm der Barbarei und der Zerstörung ist über Europa da-
hingebraust, eine Welle des Terrors, der Unterdrückung und des
Elends, wie sie in der Geschichte der Menschheit nicht ihresglei-
chen findet. Alle Völker Europas haben furchtbare Wunden erlit-
ten, die lange Zeit brauchen werden, um zu verheilen. Mit Hilfe
aller anderen freien Völker der Erde werden sie in der Lage sein,
das schlimmste Elend zu überwinden und ihre Wirtschaft wieder
aufbauen zu können. Es bleibt aber im Herzen Europas ein Volk,
von vielen verachtet, von den meisten gehasst, von niemandem
unterstützt, weil von ihm der Schrecken seinen Ausgang nahm,
weil die Barbarei in wenigen Jahren den Namen dieses Volkes
annahm. Und doch war es dieses Volk, das einmal das Volk der
Dichter und Denker genannt wurde, das der Welt grosse Kultur-
güter geschenkt hat, das grosse technische und wissenschaftli-
che Leistungen für die Menschheit verzeichnete, aus dessen
Schoss Gesellschaftswissenschaft und Arbeiterbewegung geboren
wurden, aus dessen Mitte Hunderttausende in Konzentrationsla-
ger wanderten oder ermordet wurden, doch wohl weil sie für
Fortschritt und Freiheit kämpften!
Es ist dieses gleiche Volk, das nach Jahren furchtbarer wirtschaft-
licher Erschütterung, von Arbeitslosigkeit und Elend, schliesslich
in die Nacht der Barbarei gestossen wurde, aus dessen Irrgarten
es nicht mehr herausfand. Heute steht es vor den Trümmern sei-
ner Städte, vor den Hekatomben seiner Millionen Toten; die deut-
schen Kinder irren durch zerstörte Strassen, leben wie Tiere in
Höhlen, ohne Hoffnung, ohne das tägliche Brot in kümmerlichster
Form. Wir. Deutsche in Argentinien, können aus den Trümmern
keine neuen Städte aufbauen, aber wir können dazu beitragen,
ihnen das Notwendigste zum Leben zu verschaffen.
Es ist das Ziel des Deutschland-Hilfswerks, das dem argentini-
schen Roten Kreuz angeschlossen sein wird, allen unschuldigen
Opfern des Hitlerterrors und des Krieges, vor allem aber den
Kindern zu helfen mit den Spenden in Geld, Wäsche und Klei-
dern, die von allen Deutschen und anderen Menschen, die guten
Willens sind, uns zugehen. Dazu gehört, dass diese Hilfe so
schnell wie möglich geleistet wird, damit sie dazu beitragen kann,
den nächsten Winter, der furchtbar sein wird, in Deutschland, zu
überwinden. Die Arbeit kann und darf sich nicht auf die Haupt-
stadt beschränken. Wir bitten alle, die im Innern des Landes, in
Provinzen und Territorien, an dieser Hilfsaktion sich beteiligen
wollen, sich zu örtlichen Unterkomitees zusammenzuschliessen,
um dort die Arbeit zu organisieren.
Nichts kann in diesem Augenblick wichtiger sein als diese unsere
Arbeit. DARUM NOCHMALS: DAS WENIGE, WAS WIR VON
HIER AUS TUN KOENNEN, MUSS GETAN WERDEN.
neca. Todo lo cual no es mäs que pantomima del mäs puro Cor-
te, pues si el ruso estä realmente enamorado del reloj, levanla
un dedo y hace la mimica de cortarlo con otro, indicando que
ofrece 350 dölares. A partir de ese punto, toda transacciön de
esta indole se con vierte en un pugilato de ofertas.
Este es f! ünico mercado del mundo que yo conozco, en el que
medio cigarrillo tiene un valor definido. (ONA)
Als nach Hitlers Machterschlei-
chung der braune Schrecken sich
über Deutschland auszubreiten
begann, gaben deutsche Antifa-
schisten im Auslande das Braun-
buch über Reichstagsbrand und
Hitlerterror heraus, dem kurze Zeit
später eine Fortsetzung über den
Leipziger Prozess gegen Torgier,
Dimitroff und Genossen folgte. An
Hand von Fotos, Dokumenten und
einwandfreien Zeugenaussagen
wurde der Welt zum ersten Male
ein ungeschmintes Bild von der
deutschen Wirklichkeit unter der
Naziherrschaft gegeben. Listen Er-
mordeter und Eingekerkerter, Be-
richte über Folterungen und ande-
re Grausamkeiten, über Gestapo-
praktiken und Willkür- und Ein-
schüchterungsmassnahmen bilde-
ten unabweisliche Zeugnisse des
wirklichen Geschehens hinter der
glänzenden Fassade des Hitler-
schen Gebäudes. Damals aber
stand der Terror erst an seinem
Anfang, und in dem Masse, in, dem
sich unter den wohlwollenden BUK-
ken ausindischer Reaktionäre und
mit Hilfestellung Geistesverwand-
ter in aller Welt das Regime kon-
solidierte, wurde die Unterdrüc-
kung zu einem mit deutscher
Gründlichkeit ausgearbeiteten, lük.
kenlosen System, bis sie sich nach
Kriegsausbruch zur blutigsten Aus-
rottung und Knebelung steigerte,
die die moderne Geschichte kennt.
Fast alle betroffenen Völker Euro-
pas haben ihre Leiden und Opfer
in Dokumenten niedergelegt, die
teils schon veröffentlicht, teils
noch in Vorbereitung sind, und
von denen das polnische Schwarz-
buch wohl das bekannteste sein
dürfte. (Wir haben darüber in No-
96 berichtet). Diese Beweissamm-
lungen werden in den Kriegsver-
brecherprozessen und auch beim
Aushandeln der von Deutschland
zu leistenden Reparationen ihre
Solle spielen. Darüber hinaus aber
stellen sie ein geschichtliches Quel-
lenmaterial dar, aus dem die Chro-
nisten der Zukunft schöpfen wer-
den, wenn sie das grausige Gesicht
dieser Zeit rekonstruieren. Dcch
wäre dieses Bild verfälscht, wenn
man dabei nicht der Leiden, des
Widerstandes und des Kampfes
der deutschen Hitlergegner geden-
ken wollte, der nicht minder wage-
mutig war und nicht minder
4
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
schwere Opfer kostete als das Rin-
gen der Überfallenen Völker gegen
ihre braunen Unterdrücker. In
Deutschland wurden die ersten
Konzentrationslager errichtet, und
in Deutschland war der Henker
noch an der Arbeit, als die Heere
Hitlers die eroberten Gebiete längst
hatten aufgeben müssen. Wir wol-
len keineswegs die politische Ver-
antwortlichkeit grosser Teile des
deutschen Volkes und die sich dar-
aus für das ganze Volk ergebenden
Konsequenzen leugnen, aber wir
wehren uns dagegen, dass das gan-
ze Volk mit den Untaten einer
Minderheit skrupelloser Verbrecher
belastet wird.
Blinder Hass und böser Wille sind
heute bestrebt, den Anteil deut-
scher Antifaschisten am Kampfe
gegen Hitler zu bagatellisieren und
hinwegzudiskutieren; in dunkle
Ausbeutungspläne passt ein hun-
dertprozentiges Mörder- und Räu-
bervolk besser als eine sorgsame
Differenzierung, aber meist ist
wirkliche Unwissenheit das Haupt-
motiv der schematischen und sum-
marischen Verurteilung aller Deut-
schen. Nur sehr zage und ohne
grosse Begeisterung bemüht sich
die grosse Weltpresse um die Her
ausstellung der Tatsachen, aber
das Wenige, das doch dann und
wann seinen Weg in ihre Spalten
findet oder das in unabhängigeren
kleinen Presseorganen veröffent-
licht wird, spricht schon deutlich
genug.
*'ür die Hitlergegner, die sich heu-
te in Deutschland wieder zu orga-
nisieren beginnen, sollte eine der
wichtigsten Aufgaben sein, alles
erreichbare Material über den An-
teil Deutscher am Kampf gegen
die braunen Verbrecher seit 1933 zu
sammeln und der Oeffentliohkeit
zugänglich zu machen. Ein ein-
dringlicheres und wahrscheinlich
überraschenderes Dokument könn-
te man der Welt heute wohl kaum
vorlegen. Die wegen politischer
Tätigkeiten verurteilten Deutschen,
die durch Konzentrationslager,
Zuchthäuser und Gefängnisse Ge-
gangenen, die von Jahr zu Jahr
wachsende Zahl der Hingerichte-
ten wären anzuführen, und jeder
Tatbestand wäre mit unanfechtba-
ren Daten, möglichst amtlichen
Veröffentlichungen zu belegen.
Dann wäre ein ausführlicher Be-
richt zu geben über die Tätigkeit
deutscher Antifaschisten während
des 'sogenannten Bürgerkrieges in
Spanien.
Soweit möglich, wären Name und
Zahl der Deutschen anzugeben, die
als Freiwifige bei der Invasion
Frankreichs in das französische
Heer eintraten; auf jene wäre hin-
zuweisen, die mit den französi-
schen Maquisards kämpften, auf
die Kcmpagnie deutscher Deser-
teure, die unter dem Kommando
Titos in Jugoslawien focht. Anzu-
führen wären die deutschen Offi-
ziere. die in besetzten Ländern
mit den Untergrundbewegungen
gemeinsame 'Sache machten. Na-
mentlich wären anzuführen die
kölner Frauen, die von den Nazis
auf einem öffentlichen Platz ge-
henkt wurden, die münchener Stu-
denten, die wegen staatsfeindlicher
Tätigkeiten hingerichtet wurden,
die Bergleute von der Ruhr, die
sich dem Evakuierungsbefehl wi-
dersetzten und im Schacht umka-
men. Zu nennen wären alle die,
die ihr Leben und ihre Freiheit
aufs Spiel setzten, indem sie alliier-
te Soldaten versteckten, Kriegsge-
fangenen zur Flucht verhalfen oder
ihnen Nahrungsmittel zukommen
liessen. Die ostpreussischen Bäue-
rinnen, die jüdische Kinder als ih-
re eigenen ausgaben und sie so vor
einem fürchterlichen Schicksal
bewahrten, müssten ebenso figu-
rieren wie die Erklärungen auslän-
discher Zwangsarbeiter über Soli-
daritätsaktionen ihrer deutschen
Kollegeh. Ein Abschnitt des Bu-
ches könnte der Tätigkeit der po-
litischen Emigration gewidmet
sein, ihrer Aktivität gegen Hitler
und ihrem Eintreten für die Sache
der demokratischen Völker, die
spontan und eindeutig erfolgte, als
andere sich noch vorsichtig abwar-
tend zurückhielten, die sich heute
in Verdammungskundgebungen
überschlagen.
Ein umfangreiches und aufschluss-
volles Dokument würde ein solches
deutsches Braun. oder Weissbuch,
oder wie man es nun nennen will,
darstellen. Am berufensten zu sei-
ner Abfassung wären vielleicht die
Gewerkschaften, diejenige Organi-
sation. die heute in Deutschland
die grössten Massen erfassen und
so am leichtesten zu einer Sammel-
stelle von Berichten und Beweis-
stücken werden könnte, die ausser-
dem über die internationalen Ver-
bindungen verfügt, die eine Her-
anschaffung von Material aus dem
Ausland ermöglichen. Ob aber nun
die Gewerkschaften oder irgend
eine andere Körperschaft oder
Gruppe sich der Aufgabe widmen,
an ihrer Notwendigkeit und ihrem
Wert kann kaum Zweifel bestehen.
Verleumdung und interessiertes
Schweigen wollen wieder einmal die
Tatsachen nicht wahrhaben. Ein
neues Braunbuch tut nct
Potsdam, die Atombombe und das Ende des Krieges
Potsdam ist das Symbol des preussi-
schen Militarismus und des preussi-
schen Polizeistaats. In Potsdam trat
Hitler unter Assistenz des alten Hin-
denburg, in dem sich der preussische
Militarismus verkörperte, mit einer
bewusst provokatorischen Theatersze-
ne am Grabe Friedrichs des Grossen
seine Herrschaft an. Er stellte sich
in diesem Akt dem deutschen Volk
und der Welt als Fortsetzung der
preussischen Tradition vor.
Der Ungeist von Potsdam hat
Deutschland vergiftet und das deut-
sche Bürgertum auf die Irrwege ei-
nes materialistischen Gewaltglaubens
lind einer Staats Vergötterung geführt,
die poetisches Verantwortunysbe-
von August Siemsen
wusstsein und Bürgertugend durch
politische Unwissenheit und blinde
Disziplin ersetzte. Nationalsozialis-
mus und Hitlerdiktatur haben diese
unheilvolle Entwicklung folgerichtig
bis im Extrem übersteigert und da-
durch Europa und insbesondere
Deutschland in eini grauenvolle Ka-
tastrophe geführt.
In Potsdam haben die Sieger ihre Be-
schlüsse gefasst, die die Vernichtung
alles dessen, was der Name Potsdam
umschliesst, besiegeln. An derselben
Stelle, wo das Dritte Reich seine an-
geblich tausendjährige Herrschaft
begann, wurde es nach zwölf Jahren
eingescharrt.
Mit dem Dritten Reich und mit dem
preussischen Militarismus sind die
nationalistischen und imperialisti-
schen Ziele Preussen-Deutschlands zu
Grabe getragen. Ausgeträumt für im-
mer sind die Träume des grösseren
Deutschland, der Beherrschung Euro-
pas und der Weltherrschaft. All das
kann in Deutschland höchstens noch
als unfruchtbares Ressentiment ein
spukhaftes Dasein führen.
So weit, so gut!
Und auch, dass Deutschland seine
Stellung als politische Grössmacht
verloren hat, wird uns, die wir
DVS ANDERE DEUTSCHLAND
5
grundsätzliche Gegner der Machtpoli-
tik sind, nicht niederdrücken.
Aber die Potsdamer Beschlüsse ge-
hen weit über die Vernichtung des
Nationalsozialismus, des Militarismus
und der politischen Machtstellung
Deutschlands hinaus. Sie wollen
Deutschland nicht nur politisch auf
eine „Macht dritten Ranges" herab-
drücken, wie Truman das formuliert
hat, in ihrer Gesamtheit legen sie
vielmehr auch ökonomisch dem deut-
schen Volk Bedingungen von einer
Härte und Grausamkeit auf, wie sie
bis zur Hitlerdiktatur noch niemals
in der neueren Geschichte gegenüber
einem grossen Volk dagewesen sind.
Bei ihrer Begründung hat man sich
die These Vansittarts von der Ge-
samt- und Alleinschuld des deutschen
Volkes zu eigen gemacht, obwohl die-
se These offensichtlich unwahr ist —
unwahr, weil Hitler der Opposition
innerhalb des deutschen Volkes einen
quantitativ wie qualitativ ungeheuer-
lichen Terrorapparat entgegenstellen
musste, und unwahr, weil er weit
über die Grenzen Deutschlands in den
höchsten wirtschaftlichen und politi-
schen Kreisen der kapitalistischen
Welt Freunde und Helfershelfer hat-
te.
Was aber die angeblichen Befürch-
tungen über künftig mögliche deut-
sche Angriffe angeht, sy werden sie
durch die trostlose deutsche Wirklich-
keit, wie sie zum Beispiel von
Dorothy Thompson geschildert wird,
ad absurdum geführt. Sie sind ledig-
lich politisches Propagandamittel, um
die barbarischen Massnahmen zu
rechtfertigen, die man in Potsdam ge-
gen das deutsche Volk ergriffen hat.
Da ist zunächst die Abtretung von
Ostpreussen, der deutschen Teile
Westpreussens, des weitaus grössten
Teiles von Pommern und Schlesien,
grosser Gebiete Brandenburgs an Po-
len., bezw. des östlichen Ostpreussens
mit Königsberg an Russland. Diese
mit ganz geringen Ausnahmen rein
deutschen Gebiete machen etwa ein
Viertel Deutschlands aus und haben
über zehn Millionen Einwohner.
Mit dieser Einverleibung des gesam-
ten deutschen Ostens in Polen tut
man dasselbe, was Hitler mit Polen
und der Tschechoslowakei getan, und
was mit Recht Empörung in der gan-
zen Welt hervorgerufen hat. Aber
nicht genug damit! Die seit vielen
Jahrhunderten dort ansässige Bevöl-
kerung wird ausgewiesen und in dem
sehr verkleinerten Deutschland zu-
sammengepfercht. Dabei ist zu beach-
ten, dass das westliche Deutschland
an sich schon weit dichter bevölkert
ist als das vorwiegend agrarische Po-
len mit seiner rückständigen Boden-
bewirtschaftung, das noch viel Platz
für bäuerliche Bevölkerung hat und
das garnicht genug Menschen besitzt,
um die von den Deutschen evakuier-
ten Gebiete zu besiedeln.
Aber alle solche einfach menschli-
chen und ökonomischen Gesichtspunk-
te spielen in unserer Zeit keine Rolle
mehr gegenüber ,,politischen Notwen-
digkeiten". Die Sowjetunion braucht
den grössten Ostseehafen Königsberg,
Um in seinem Besitze endgültig die
Ostsee zu beherrschen. Polen wird
durch die überreichliche Entschädi-
gung für die an die Sowjetunion ab-
getretenen Gebiete durch deutsche
Provinzen fest an Russland gekettet.
Russland-Polen stehen damit an der
kürzesten Linie von der Ostsee zur
verbündeten Tschechoslowakei," an ei-
ner Linie, die von Stettin über Frank-
furt oder aufwärts und dann dem
Lauf der westlichen Neisse folgend
über Guben, Forst, Görlitz nach
tschechisch Reichenberg führt.
Wenn man mit einem Krieg zwischen
der Sowjetunion und den angelsäch-
sischen Mächten rechnet, so ist diese
Regelung vom Standpunkt der Sow-
jetunion, die soviele bittere Erfahrun-
gen hinter sich hat, zu begreifen.
Wenn es dagegen wahr ist, was über-
all so empathitsch versichert wird,
dass die Allmacht der drei Grossen
den Weltfrieden in sicherer Hut hat,
dann ist 'die Vergewaltigung von zehn
Millionen Deutschen nichts als eine
Nachahmung hitlerscher Methoden
und ein sinnloser Rückfall in barbari-
sche Zeiten.
Aber nicht genug damit! Deutschland
soll nicht nur seine Luftfahrt und
seine Flotte verlieren, man verurteilt
das zu einem grossen Teil obdachlose
deutsche Volk nicht nur durch die Be-
schlagnahme der deutschen Kohlen-
förderung zu einem furchtbaren Win-
ter, Deutschland soll auch seine ganze
Schwer- und Exportindustrie verlie-
ren und in Durchführung des berüch-
tigten Morgenthauplans in ein Agrar-
land zurückverwandelt werden. Die
entsprechenden industriellen Anlagen
sollen, soweit die Sieger sie gebrau-
chen können, abtransportiert, die
übrigen zerstört werden.
Falls diese Pläne durchgeführt wer-
den, ergibt sich eine ziemlich einfache
Rechnung:
1.	Das hochindustrialisierte und dicht-
bevölkerte Deutschland hat sich bis-
her nicht aus eigener Produktion er-
nähren können; es musste vielmehr
grosse Mengen von Lebens., Futter-
mitteln und Textilstoffen einführen,
die es mit Industrieprodukten bezahl-
te.
2.	Die landwirtschaftlichen Lieber-
schussgebiete im Osten fallen aus.
3 In das verkleinerte Deutschland
werden aus Polen und der Tschecho-
slowakei mindestens zehn Millionen
Menschen hineingepresst.
4.	Für die hochqualifisierten deut-
schen Techniker und Industriearbei-
ter gibt es keine entsprechende Ar-
beitsmöglichkeit mehr.
5.	Eine wesentliche Steigerung der
landwirtschaftlichen Produktion in
Restdeutschland, wie sie von den al-
liierten Besatzungsbehörden propa-
giert wird, ist unmöglich, da es hier
durchweg bisher schon intensiv be-
triebene Bauernwirtschaft — vielfach
auf Zwergbesitz — gab. Im Gegenteil
muss der Ertrag sinken, da Deutsch-
land infolge seiner Zahlungsunfähig-
keit nicht die nötigen Futtermittel für
die Schweine, und Geflügelzucht ein-
führen kann.
6.	Man darf annehmen, dass etwa fünf
Millionen Deutsche unter der Hitler-
diktatur umgekommen sind. Aber der,
Wegfall dieser fünf Millionen Ver-
braucher wird reichlich aufgewogen
dadurch, dass es unter den Ueberle-
benden Millionen von Verstümmelten,
Nervenkranken und für immer Ge-
schwächten gibt, die keine oder nur
halbe Arbeit leisten können.
Bei Durchführung der Pläne von
Potsdam würde es in Deutschland al-
so 10 bis 20 Millionen Menschen zu
viel geben. Wenn für diese nicht
schnelle Möglichkeiten der Auswande-
rung bestehen — und wie sollten die,
abgesehen von der Verwendung deut-
scher Zwangsarbeiter, so schnell ge-
schaffen werden! — so müssten bei
allgemeiner Senkung des Lebens-
standards, insbesondere der Ernäh-
rung, mindestens zehn Millionen Men-
schen verhungern,
Wenn man diese Darlegungen de.
kämpfen will, so möge man es nicht
mit allgemeinen Redensarten tun, son-
dern mit Argumenten, d. h. man möge
zeigen, was die Deutschen tun kön-
nen, um nicht zu hungern und zu ver-
hungern.
Nun hat man auf der anderen Seite
den Deutschen das Recht zur politi-
schen Betätigung gegeben. Aber was
können sie schon' viel damit anfangen,
wo1 alle Kräfte angespannt werden
müssen, um das nackte Leben zu ret-
ten?
Was aber kann die wirtschaftliche
Knebelung und Zurückschraubung
Deutschlands csr kapitalistischen Welt
nützen?
Der "Manches er Guardian", in #em
so oft im allgemeinen Phrasentaumel
die Stimme der Vernunft erklingt,
schrieb am 6. August:
„Die Cirossmiivhte fuhren ein Kxperi*
ment durch, vom drin wir wohl ilon An-
fang kennen, aber iiivlit «las Hude; die
kontrollierte Liquidierung eines mo.
tiernen Industriestaales . . Anstatt
eines reii-hen Iiidustrii'laiides mit ei-
nem hohen Lebensstandard und einem
aktiven Aussenhamlel wird es ein viel
kleinere* Gebiet gehen, das keinerlei
1'ebersehiiss an Lebensmitteln und
Rohstoffen hat und dovh den Ansprti.
ehvn einer stark angewachsenen Be-
völkerung gerecht werden muss . . .
(lanz Europa kann in die wirtschaft-
liche Stagnation gcfUlirt werden durch
die Behandlung Deutsehlands seitens
der Alliierten".
Was man in Potsdam beschlossen hat,
und was fast allgemeine Zustimmung
in der Welt gefunden hat, da es ja
nur auf Kosten des deutschen Volks
zu gehen scheint, is in seiner Gesin-
nung und in seiner Auswirkung leider
allzu wenig verschieden von der Ge-
sinnung und der Politik, die die Welt
in Krise, Krieg und Katastrophe ge-
führt, und die in der Hitlerdiktatur
ihren abscheulichen Höhepunkt er-
reicht hat. Ein ganzes grosses Volk
gewaltsam auf eine längst überwun-
dene ökonomische und damit kultu-
relle Stufe zurückschrauben wollen,
um seine Konkurrenz auszuschalten
— denn darum handelt es sich ja
doch —, einen Teil dieses Volkes damit
zum Hungertod verurteilen ,das un-
terscheidet sich nur graduell von der ,<■
Praxis der Nazis — es fehlen die Kon-
6
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
zentratienslager, die Folterungen, die
Gaskammern — aber keines./eys
grundsätzlich.
Wie denkt man sich übrigens die Er-
ziehung der deutschen Jugend zu De-
mokivfie und anderen schönen Din.
g-.i, wenn die Wirklichkeit, statt ihr
freie Entwicklungsmöglichkeiten zu
geben, sie Unterdrückung, Entrech-
tung und Not erleben lässt? Nichts
erzieht so wie die Wirklichkeit des
Lebens. Und wenn die Worte zu ihr
in schreiendem Widerspruch stehen,
so kann das Resultat pur so negativ
wie möglich sein.
Wie in Deutschland so hat in Japan
eine machtgierige und gewaltgläubige
herrschende Klasse ein fleissiges und
kultiviertes Volk — man denke nur
an die reizvollen Schilderungen des
japanischen Lebens durch europäische
Schriftsteller! — In die Katastrophe
geführt. Die Vernichtung zweier gro-
sser japanischer Städte mit allem, was
in ih-nen atmete durch die Atombom-
be und die Drohung mit der restlosen
Austilgung Japans hat die bedingungs-
lose Kapitulation Japans und damit
das Kriegsende zur Folge gehab<t.
Ende des Massenmords und der Ver-
heerung! Erleichtert atmet man auf.
Hass das Ende des Krieges nur Jurch
unerhörte Massenvernichtung erzwun-
gen v/erden konnte, auch das müsste
man mit in den Kauf nehmen, wenn
die Atombombe in der Hand einer
weisen und gerechten Weltreg ierung
wäre.
Aber die Kapitulation, zu der man Ja-
pan mit der Atombombe gezwungen
hat, scheint dazu benutzt werden zu
sollen <— es ist nicht so klar wie bei
Deutschland — Japan seiner Flotte,
Schwer, und Exportindustrie zu be-
rauben. Dabei ist das zu einem grossen
Teil für Ackerbau ungeeignete Japan
noch mehr als Deutschland auf Ex-
port angewiesen, um seine Bevölke-
rung zu ernähren. Auch hier müssten
etwa 20 Millionen Menschen verhun-
gern, wenn man diese Pläne zwecks
Ausschaltung der Konkurrenz und
Erhöhung der Profite durchführen
und zugleich die japanische Auswan-
derung verhindern würde.
Bleiben solche Gesinnung und solche
Politik herrschend, treten nicht an ih-
re Stelle eine neue Gesinnung und ein
neuer Geist erdumfassender Mensen-
lichkeit, so wird die Atombombe nicht
nur gegenüber Japan das letzte Wort
gesprochen 'haben, so wird sie vor-
aussichtlich auch das letzte Wort in
der Geschichte der Menschheit spre-
chen, so wird das Experiment
„Mensch" gescheitert sein.
Andererseits gibt der durch den Krieg
— und nur durch den Krieg! — er-
reichte Fortschritt der Technik, vor
allem die märchenhafte Perspektiven
eröffnende Erfindung der Atomzer.
trümmerung der Menschheit die Chan-
ce, eine neue Welt aufzubauen, in der
mit den Privilegien des kapitalisti-
schen Besitzes zugleich Ausbeutung
und Unterdrückung von Menschen
durch Menschen verschwunden sind,
in der an die Stelle von Armut und
Not, von Angst und Unfreiheit allge-
meiner Wohlstand und Sicherheit ge-
treten sind, in der die Menschen den
entscheidenden Schritt aus dem Reich
der Notwendigkeit in das Reich der
Freiheit getan haben.
WIE NIE ZUVOR IN IHRER GE-
SCHICHTE STEHT DIE MENSCH-
HEIT AM SCHEIDEWEGE. Eine
neue Menschheitsepoche känn begin-
nen, in der nicht nur Hitler und der
Faschismus, in der auch Potsdam und
der Versuch der gewaltsamen Zurück-
schraubung Deutschlands und Japans
auf ein tiefes ökonomisches und kul-
turelles Niveau wie grausame Mär-
chen aus der Vorgeschichte der
Menschheit anmuten werden.
Angesichts dieser Entscheidung, vor
der die Menschheit steht, gilt es, alle
Kräfte anzuspannen, um die drohen-
de endgültige Katastrophe zu verhin-
dern und einer Welt die Wege zu eb-
nen, in der es mit dem Bibelwort hei.
ssen wird:
Das Alte ist vergangen.
Siehe, es ist alles neu geworden.
NIHILISMUS
Von Ignacio Silcne
Der Dichter, der „Font&mara", „Brot und Wein" und ,,Samen unter dem Schnee" schrieb, ist in seine Heimat zu-
rückgekehrt. Er schreibt regelmässig im sozialistischen Avanti1' in Rom und nimmt aktiven Anteil an den Bestre-
bungen, die auf eine positive Zusammenarbeit der proletarischen Parteien abzielen. Die englische Fassung des fol-
genden Artikels ist in der von Dwiglit Macdonald geleiteten Zeitschrift „Politics" erschienen.
Die für jede neue herrschende Klasse mit der Er-
greifung der Macht verbundene Tragik bleibt uns
Italienern in der gegenwärtigen Uebergangsperiode
nicht erspart.
Dürfen wir jetzt die erhabenen Ziele vergessen, die
wir uns in den Jahren steckten, als wir unterdrückt
wurden? Dürfen wir zulassen, dass unsere Erneu-
erungspläne eine Angelegenheit für Bankett-Reden
werden? Sollen wir das Heldentum derer, die der
Diktatur widerstanden, mit Medaillen belohnen, in
denen wir ihnen ihr gutes Benehmen bescheinigen?
Werden wir nun, da die Diktatur vernichtet ist, uns
dem Gesetz beugen, nach dem jeder Aufstand des
Volkes als Befreiung beginnt und in Sklaverei en-
det?
Kurz, sollen wir von Opfern der Despotie nun
selbst Verfolger werden? Und sollen wir nun Ta-
ten als gute Werke loben, wenn unsere Freunde
sie jetzt teegehen, die wir Verbrechen nannten, als
unsere Feinde sie an uns begingen?
Von der Beantwortung dieser Fragen hängt Gelin-
gen und Scheitern der Revolution ab, die sich in
Italien vollzieht. Wir müssen mutig an sie herange-
hen, wie unbequem oder störend das auch für bi-
gotte Antifaschisten sein mag. Die Aufgabe des
Augenblicks ist, die Symptome und Erscheinungs-
formen der Dekadenz erkennen zu lernen und ener-
gische Massnahmen zu ergreifen, die ihre Verbrei-
tung verhindern.
Niemand erwartet, dass sich eine Demokratie ohne
den Wettbewerb zwischen Parteien, Ideen und In-
teressen entwickelt, und ohne die Gefahren, die
nun einmal jedem Wettbewerb innewohnen. Aber
wir müssen uns darüber klar sein, dass ein Watt-
streif nicht die gesunde Frucht der Freiheit hervor-
bringen kann, wenn jeder — oder wenigstens die
Mehrheit — seine eigenen Mittel und Ziele tarnt
und fiktive, irreführende und nebensächliche Ziele
den konkreten, dringenden Nöten der Menschen
voranstellt und so den Schwerpunkt der Fragen
verlagert. Leider wird es, selbst dem geschulten
Beobachter des politischen Lebens in .Italien täglich
schwerer zu entscheiden, wer von den Konkurren-
ten nicht mit falschen Karten spielt. Demokraten
maskieren sich als Sozialisten, Reaktionäre als Li-
berale, Klerikale als Freidenker, Reformisten als
Kommunisten, Agenturen des Auslands als ultra-
patriotische Parteien. Die aufrichtigsten und be-
scheidensten Politiker versuchen diese Fälschungen
mit dem heiligen Wort „Taktik1 j zu rechtfertigen.
Die Taktik hat heute tatsächlich in.den meisten Par-
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
7
teien das Denken und Planen ersetzt. Taktik ist das
erste Wort, das die Säuglinge in den Partei-Find-
lingshäusern stammeln lernen.
Wir dürfen diese Dekadenz-Erscheinung nicht un-
terschätzen, denn sie ist nicht auf Italien be-
schränkt. Sie ist in allen Ländern vorhanden. Sie ist
auch nicht auf die Sphäre der Politik begrenzt, son-
dern universell und' allumfassend. Es handelt sich
um ein weitverbreitetes, tief verwurzeltes Phänomen
der Degenerierung, das zuerst von Nietzsche mit
dem Namen Nihilismus definiert wurde.
Nihilismus ist der hervorstechendste Zug zeitgenös-
sischen Lebens. Nihilismus bedeutet sich opfern für
eine Sache, an die man nicht glaubt, an die man
aber zu glauben vorgibt. Nihilismus heisst, über-
zeugt davon sein, dass hinter jedwedem Glauben
und jedweder Doktrin nichts steckt, und dass es
daher allein auf den Erfolg ankommt. Nihilismus
ist die Identifizierung des Guten, Gerechten und
Wahren mit seinen eigenen persönlichen Interessen.
Wo aber keine allgemeine geistige Ordnung vor-
handen ist, fehlen die Grundlagen des gesell-
schaftlichen Lebens, dort wird das Leben der Ge-
sellschaft eine Frage der Gewalt und Politik zu ei-
nem wilden Kampf. Ohne Zweifel ist der Faschis-
mus die radikalste und umfassendste Manifestation
des Nihilismus in unseren Zeiten gewesen. Das öf-
fentliche Leben, das er heraufgeführt hat, verherr-
licht heroische Gefühle, die keine Wurzel im Ge-
wissen haben, und die nur eine pompöse und lär-
mende Schaustellung von Schamgefühlen sind.
Aber der Faschismus sank nicht vom Himmel auf
uns hinab. Er war eher das Produkt als die Ursache
des alten italienischen Nihilismus.
Er wurde jedoch in dieser wie in anderer Hinsicht
vom deutschen Faschismus übertroffen. Der deut-
sche Nationalsozialismus ist verdienterweise die
nihilistische Revolution gendnnt worden. Sein klar-
ster Prophet, Ernst Juenger, erblickt den Helden
der nationalsozialistischen Wiedergeburt in einem
neuen Typ Proletarier: entpersönlicht, standardi-
siert, hirnlos, herzlos, seelenlos, ein wirklicher le-
bender Roboter. Für diese Kreatur würde die voll-
ste Freiheit in ihrer mechanischen Eingliederung
in die kommende Folge von Bürger- und imperia-
listischen Kriegen bestehen. Für ihn und seine Mit-
roboter würde das Heldentum erst wirklich erha-
ben werden, wenn es sich von dem herkömmlichen
menschlichen Bereich loslösen und sich dem der
vollkommenen Maschinen nähern würde.
Die militärische Niederlage des Faschismus bedeu-
tet nicht die Ausrottung des Nihilismus. Nihilismus
ist keine Ideologie. Er ist keine Verirrung, die nur
wenige Gruppen und Klassen infiziert Hat. Ich kann
keine einzige zeitgenössische Bewegung oder In-
stitution nennen, die vollkommen frei von ihm wäre.
Das folgende Bekenntnis stammt aus den Schrif-
ten eines katholischen Priesters: „Wir haben die
Tugenden auf eine einzige reduziert: Klugheit; und
die Taktik der militanten Christen (sogar sie haben
ihre Taktik!) auf die Vermeidung der Verfolgung."
Nützlichkeitsreligion ist nihilistisch. Diejenigen, die
eine Rückkehr des Menschen zu Gott predigen,
weil dies zur Aufrechterhaltung der öffentlichen
Ordnung beitragen würde, diejenigen, die sagen:
„Wir brauchen Gott", so wie ein General sagen
könnte: „Wir brauchen Panzerwagen", sind Predi-
ger des Nihilismus. Und viele derjenigen, die eine
moralische Autorität, die über allen Parteitrennun-
gen steht, in Anspruch nehmen, sind praktisch ni-
hilistische Autoritäten. Wir haben heftige Bannflü-
che gehört, die von den berufensten Vertretern der
Kiröhe immer dann geschleudert wurden, wenn die
Interessen der Geistlichkeit angegriffen waren. Aber
wir haben nie irgend eine Verdammung der Ge-
walt und Tyrannei gehört, die in katholischen Staa-
ten von katholischen Autoritäten gegen ihre nicht-
katholischen Gegner in Anwendung gebracht
wurden.
und wie haben wir uns benommen? Die Wahrheit
ist, dass auch wir nicht frei von derselben Krank-
heit sind. Der Sozialismus, der Selbstzweck gewor-
den ist und aufhört, als Instrument einer radikalen
Humanisierung unserer Umgebung zu wirken, ist
der Ansteckung durch den Nihilismus nicht ent-
gangen. Solcher Sozialismus befindet sich in der
Gefahr, in eine entsetzliche Technokrate auszu-
arten.
Und selbst die Freiheit kann nihilistisch sein. Frei-
heit, die nicht im Dienst des Lebens steht, verwan-
delt sich in Sklaverei; sie operiert im Leeren und
endet in Wahnsinn, Selbstmord und Verbrechen,
— wie Dostojewskis nihilistische Heyden.
Es ist kein Wunder, dass die empfindsameren
Künstler davor zurückgeschreckt sind, die Wirk-
lichkeit, die sie umgibt, zu betrachten. Schau sie
nur sorgfältig an, und sie offenbart sich als reiner
Schein, synonym dem Nichts. Kein Wunder, dass
sie nach einem Ausweg durch die Schaffung einer
abgesonderten Welt der reinen Form gesucht ha-
ben. Aber ihre Kunst hat dem nihilistischen Porträt
unserer Zeit einen neuen Zug hinzugefügt, und die
besten unter ihnen sind, ohne dass sie es selbst ge-
wahr werden, blosse Uebertünch er von Gräbern.
Es ist klar, dass die Rettung, die Wiederentdeckung
des heiligen Wertes des Lebens, die ehrliche und
aufrichtige Anerkennung einer gemeinsamen Wert-
skala von allen, die Gründung einer gemeinsamen
Zivilisation, einer gemeinsamen Solidarität, einer
klaren und unleugbaren Bruderschaft — dass sol-
che Rettung niemals die Folge einer Theorie oder
einer Technik oder einer Gesetzgebung oder päda-
gogischer Massnahmen sein kann. Diese Dinge sind
Merkmale grosser und wahrer Revolutionen. Diese
Dinge kommen auf bitteren, dunklen und schmer-
zensreichen Wegen, wie es immer der Fall war,
und sie enden in einem von Grund aus neuen Auf-
bau menschlicher Beziehungen, in Uebereinstim-
mung mit einem neu eroberten Sinn des mensch-
lichen Lebens.
Es ist nicht nur Glaube, wenn ich betone, dass das
nihilistische Geschwür nicht den ganzen Gesell-
schaftskörper vergiftet hat. Lasst mich eine Ge-
schichte erzählen! Eine alte Bauernfrau aus der
Provinz Piacenza war von der Gestapo verhaftet
worden, weil sie einem entkommenen kroatischen
Gefangenen Unterkunft gewährt hat#. Das Kreuz-
8
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
vertier dieser Frau ergab' klar, dass sie die Nalio
nalität des Gefangenen nicht gekannt hatte, dass
sie nicht gewusst hatte, was oder wo Kroatien war,
und warum oder mit wem Kroatien im Kriege war.
Aber sie hatte gewusst, dass sie beträchtliche Ge-
fahr lief, wenn sie diesem hungrigen, armseligen
Menschen half. „Warum haben Sie ihm denn ge-
holfen?", fragte sie der Richter. Worauf die alte
Frau antwortete: „Ist er nicht auch einer Mutter
Sohn?"
Inmitten des Krieges mag diese Episode absurd
erscheinen. Aber es ist die Absurdität von Weizen-
feldern, die zwischen feindlichen Schützengräben
liegen,
LUISE KAUTSKY
von Oda Lerda-Olberg
Luise Kautsjcy ist im Oktober vorigen Jahres im
Konzentrationslager Oswizin gestorben. Im August
oder September hatte die Gestapo die Achtzigjäh-
rige aus Amsterdam verschleppt.
Diese Nachricht in ihrem unfassbaren Grauen fällt
twie ein tiefer Schatten auf Tausende von uns. Man
fwill es begreifen und ermessen und vermag es
nicht. Ich möchte kein Wort darüber schreiben,
möchte in meiner Qual verstummen, aber ich glau-
be, wer in ihrem Lichtkreis gelebt hat, soll Kunde
geben von dieser Frau. Wenn auch nicht in einem
Nachruf, so wenigstens in einer Totenklage. In ei-
ner Klage, in die ungezählte Menschen einstimmen,
denen das Leben ärmer geworden ist, seit sich die-
se Augen schlössen.
Solange sie lebte und da war, war sie auch den
Fernen wie eine Heimat, nach der man sich sehn-
te, eine Erinnerung an schöne Stunden, eine Zu-
flucht für unsern totgehetzten Glauben an die
Menschheit, ein Licht, das leuchtete in der Finster-
nis. Jetzt ist sie nicht mehr da — die Hölle hat sie
verschluckt. Wie soll man aussprechen, was man
nicht zu Ende denken kann, das Unermessliche ei-
nes solchen Verluste?
Ich habe nie einen Menschen gekannt, der mehr
dem Leben erschlossen gewesen wäre als Luise
Kautsky. Alles fand in ihr Widerhall, Natur und
Kunst, die grossen Fragen der Menschheit und die
kleinen Schicksale der Menschen. Sie hatte eine
festgegründete sozialistische Bildung, aber sie war
eigentlich Sozialistin von Geburt. Wer könnte sie
sich als Nicht-Sozialistin vorstellen? Sie bedurfte
keiner theoretischen Richtschnur, um als Soziaiistin
zu handeln. Sie brauchte nur sie selbst zu sein und
ihrem innern Gesetz zu folgen. Die grosse Klarheit,
die um Luise Kautsky war, die jeder empfand, der
ihr nahe trat, kam aus dieser Uebereinstimmung
zwischen ihrem innern Wesen und ihrem Schalten
und Walten. In dieser Hinsicht war sie wahrlich ein
begnadeter Mensch. Deshalb war der innere Reich-
tum unerschöpflich, aus dem sie spendete, uner-
schöpflich, wie die Kraft des Riesen der Sage, der
sie aus der Erde zog, die seine Mutter war. Das
Wunder, die Menschen zu kennen und sie trotzdem
zu lieben, Luise Kuatsky hat es vollbracht. Nicht
aus einer weichlichen Güte heraus,* die alle sitt-
lichen Umrisse verwischt, sondern aus der sonni-
gen Kraft ihrer Augen, die noch fast in jedem ein
Fünkchen Gutes gewahrte, wie Jesus die schönen
Zähne sah im verwesenden Hunde. Wie duldsam
und verstehend war diese gradlinige Frau, wie mil-
de gegen andre, :wie menschlich sie, die von sich
selbst Uebermenschliches verlangte. Für jedes
Menschenschicksal hatte sie Interesse, jedes er-
schloss sich ihr, und sie verstand es immer, es einem
nahe zu bringen. Sie war eine „Anempfinderin
im Sinne Goethes. Karl Kautsky hätte nicht leisten
können, was er geleistet hat, ohne diese Frau, die
sich auf sein Wesen abstimmen konnte, ihm mit
ihrer robusteren Gesundheit viel Rauhes und Stö-
rendes fern zu halten vermochte, die ihn hegte und
umsorgte, als Treuhänderin der Werte seines Gei-
stes. Den ewigen Zwiespalt, im andern aufzugehen
und sich selbst zu behalten, in ihrer Persönlichkeit
war er gelöst. Sie war eine Persönlichkeit mit star-
kem Stamm und hoher Krone, nicht zu beugen, doch
jedem Sturm der Höhe ausgesetzt und gewachsen.
Es ist alles zu wenig, was man von ihr sagt. Wer
kann das Gefühl des seelischen Geborgenseins
schildern, das einen überkam in ihrer Nähe? Mir
scheint, sie weckte alles, was an Gutem im Men-
schen war. In ihrer Gegenwart konnte man keine
Unwahrheit sagen. Jeder Eitelkeit hätte man sich
geschämt: kühn bescheiden des eignen Wertes be-
wusst, war diese Frau von Eitelkeit und Ehrgeiz
frei.
Von ihrem äussern Schicksal sei nur wenig gesagt.
Nun es vollendet ist, schrumpft das, was sie erleb-
te, zusammen gegenüber dem, was sie war. Aus
wohlhabendem jüdischen Hause stammend, in der
Kultur und Vielseitigkeit des Wiener Bürgertums
aufgewachsen, war Luise das einzige Mädchen un-
ter vier Kindern. Sie war noch nicht ganz erwach-
sen, als sie ein schwerer Kummer traf, dessen Un-
erklärbarkeit sie noch im Alter bedrückte: ihr Va-
ter ging freiwillig aus dem Leben. Aber, wie im-
mer bei Luise, blühte neben der schweren eine
schöne Erinnerung auf, nämlich die Dankbarkeit
für Frau Schlesinger, die Mutter von Therese, die
der Familie finanzielle Hilfe anbot, im Glauben, pe-
kuniäre Not hätte Schuld an der Tat. Die Hilfe wur-
de abgelehnt, weil man ihrer nicht bedurfte. Aber
die Dankbarkeit blieb. „Das vergesse ich nie", sag-
te sie mir. Ihre Ehe mit Karl Kautsky war ein ganz
romantischer Liebesbund. Ihr Gatte erschloss ih-
rem jungen hungrigen Geist die grossen Werke.
Mit ihm las sie Cervantes, Dante, Shakespeare.
Ihrer Allbelesenheit legten die ersten Monate ihrer
Ehe den Grund. In Stuttgart wurden die drei Söhne
geboren, in Berlin-Friedenau wuchsen sie heran.
Der Krieg verschonte sie. Dann schob die Deutsche
Revolution Karl Kautsky in die vorderste Linie, auf
kurze Zeit, denn der Auftrieb wurde früh geknickt.
Schliesslich vereinte Wien die ganze Familie, Söh-
ne und Enkel. Für Karl und Luise waren diese Jahre
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
9
ein sonniger Herbst. Sie, die vielsprachige, die
„Dame von Welt11, war der Diplomat, der Minister
des Auswärtigen, die liebenswürdigste Hausfrau,
die All-Helferin, die sich zum Niedrigsten hinunter-
beugte, und der Zerberus, der ihrem Mann die
Ruhe zur Arbeit.sicherte, die Kritikerin, auf die er
vertraute, wirklich der Mittelpunkt: Gattin, Mutter,
Freundin und Genossin. Niemand, der je in diesen
Kreis eintreten durfte, wird ohne tiefe, innige Dank-
barkeit daran zurückdenken.
Dann kam die Schlammflut über Oesterreich. Den
alten Kautskys gelang es in letzter Stunde in die
Tschechoslowakei und dann im Flugzeug nach
Amsterdam zu entkommen. Karl starb. Das Letzte
und Schlimmste blieb ihm erspart. Zwei der Söh-
ne, Felix und Karl, waren inzwischen in den Ver-
einigten Staaten geborgen; der jüngste, Benedikt,
wanderte von einem Konzentrationslager zum an-
dern, eine Wanderung, die sieben Jahre dauern
sollte. Luise hätte sich in England in Sicherheit
bringen können; die Papiere waren in Ordnung,
diese verfluchten Papiere, die heute über Leben
und Tod entscheiden. Aber in England wäre sie
von ihrem Sohne abgeschnitten gewesen, sie hätte
ihm nicht mehr schreiben, keine Briefe empfangen
können. Und er lebte von diesen Briefen. So blieb
sie in dem hungernden und frierenden Amsterdam,
um mit Buchenwald in Verbindung zu sein.
Auch seelischer Hochwuchs zieht den Blitz auf
sich, wie der hochgewachsene Baum. Wie hätten
die Nazis es dulden können, diesen Sieg des Gei-
stes über den Körper? Diese beiden Geschöpfe in
ihren Krallen, die greise Jüdin in Amsterdam und
der Mann hinter dem Stacheldraht, sollten stärker
sein in ihrer seelischen Gemeinschaft als Hunger,
Kälte und Folter? Man verfiel auf eine Marter, die
jede Marter übersteigt.' Luise Kautsky wurae ver-
schleppt und starb: niemand erfuhr es, nur der
Sohn. Sieben Jahre hatten ihn nicht gebrochen.
Das sollte ihn brechen. Die Nordamerikaner fanden
ihn noch lebend: auch Frau Gerda und die beiden
Töchter leben. Aber Luisens Äugen haben es nicht
mehr gesehen, dass ihr Opfer sich gelohnt' hat. . .
Hier endet das persönliche Schicksal. Es war im-
mer verflochten in das einer grossen Gemeinde.
Luise Kautsky hatte zu denen gehört, ,,die sich
freuten in dem Tal", zu denen die tapfer, unermüd-
lich, hoffend für eine bessere Zukunft arbeiten, zu
ihr erzog sie die Kinder und für sie gab sie ihre
reiche Kraft aus. Dann trat sie ein in die grosse
Gemeinde derer, die ausharrten in Angst und Ban-
gen, am Sterbebett des Gatten, am Stacheldraht
des Sohnes, in der Sorge um die fernen Kinder und
Enkel, in der Qual um die zerstampften Saaten der
Zukunft. Dann kam das Letzte. Dann ist sie, die
Achtzigjährige, eingegangen in jene andere grosse
Gemeinschaft, die eine Schuldforderung an die
Menschheit hat: in die Gemeinschaft der Hundert-
tausende, die in den Konzentrationslagern gequält
wurden und gestorben sind. .
Nicht ein Grab bleibt von ihr. Nicht eine Aschen-
urne. Es bleiben drei Sohne, die eine erhabene
Verpflichtung antreten als Kinder von Karl und
Luise Kautsky. Nicht die Pflicht eines Totenkults,
den Beide nicht wollten, aber die des Dienstes an
den Lebenden, auf dass wieder Menschen unter
Menschen leben.
Mit einem Hinweis auf das, was bleibt, hätte Lui-
se gewollt, dass unsere Klage ausklänge. Sie war
die Sieghafte, die Lebensbejahende. Sie wusste
nicht, wie bettelarm wir zurückbleiben, wir vom
Tode übergangener! Alten, ohne sie...
Gereimte Unwahrheit und ungereimte Wahrheit
von Ha ns Jahn
Wenn irgendjemand alle Ursache hat, Deutsche zu
hassen, so sind es gewiss die Juden, und niemand,
am allerwenigsten die antifaschistischen'Deutschen,
wird es wagen, das grauenvolle Leid, das die Na-
zis über die Juden brachten, zu verkleinern. Jedoch
so verständlich dieser Hass sein mag, in der Blind-
heit, die nun einmal allem Hassen innewohnt, neigt
er dazu, weit über sein Ziel hinauszuschiessen, und
nähert sich in schematicher Gleichsetzung von
Nazis und Deutchen bedenklich ebenso absoluten
wie unhaltbaren Totalitaritätsurteilen nazistischen
Gepräges an. Ein Beispiel für diese Einstellung bie-
tet in einer hiesigen Wochenzeitung ein Herr Bast.
Auf ein im "Andern Deutschland" erschienenes Ge-
dicht anspielend, schreibt er: "Man braucht nicht
so weit zu gehen wie ein Schriftsteller der deut-
schen Emigration, der dieser Tage ein Gedicht ver-
öffentlicht hat, in dem er in Versen sagt, was er
in Prosa wohl nicht auszusprechen wagt: dass die
Konzentrationslager ein Beweis für die Unschuld
des deutschen Volkes sind, weil die Ermordeten...
deutsche Oppositionelle seien, die von den Nazis
erschlagen wurden." Nachdem er dann nochmals
feststellt, dass man nicht gleich so weit zu gehen
brauche, die Wahrheit in Lüge umzudichten, er-
klärt er am Schluss seiner Abhandlung: "Die wahr-
haft anständigen Deutschen wissen das: sie schwei-
gen und verschonen die Welt mit dem Betteln um
Mitleid für ein Volk, von dem sie wissen, dass
nichts in der Welt seine Schuld tilgen kann."
Durch mein Nichtschweigen also zum wahrhaft un-
anständigen Deutschen deklariert, begehe ich die
weitere Unanständigkeit, das "Wagnis", nochmals
In Prosa darzustellen, was ich in Versen log. Aller-
dings kann ich nur wiederholen, was die Verse
wirklich ausdrückten,.nicht was Herr Bast aus ihnen
herauslas. Zunächst einmal ist die Unschuld des
deutschen Volkes weder von mir noch von meinen
Freunden im „Andern Deutschland" jemalts prokla-
miert worden. Es lässt sich aber nicht leugnen, dass
der fürchterlche Terror, den die braunen Horden
über ganz Europa ausbreiteten, zuerst gegen ge-
wisse Teile des deutschen Volkes eingesetzt wurde
und keineswegs nur gegen seine jüdischen' Ange-
hörigen. Nur Blindheit oder böser Wille kann be-
streiten, dass vom Reichstagsbrande an in Deutsch-
10
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
land eine grausame Verfolgung der deutschen Op-
positionellen • einsetzte, dass die Gefängnisse und
Konzentrationslager sich bis zum Bersten füllten,
dass Hinrichtungen und Morde von Deutschen an
der Tagesordnung waren und sich gegen Kriegs-
ende in beängstigendem Ausmasse steigerten. Vie-
le bekannte und noch mehr unbekannte deutsche
Antifaschisten wurden in den Konzentrationslagern
zu Tode geschunden, und wenn Herr Bast die von
den Amerikanern veröffentlichten Zahlen über die
befreiten Konzentrationslagerinsassen zur Hand ge-
nommen hätte, bevor er unangenehme Behauptun-
gen mit der einfachen Formel: Lüge! abgetan hätte,
xrielleicht wäre er in seinen Folgerungen etwas
zurückhaltender gewesen.
Nachdem Herr Bast mit einer Handbewegung mei-
ne "Lügen" abgetan hat, wendet er sich mit Eifer
und Beredsamkeit gegen die nicht minder gefähr-
lichen halben Lügen, nämlich gegen die Aeusse-
rungen von Juden, die aus persönlichen Erfahrun-
gen mit deutschen Beamten der Hitlerzeit auf die
Gegnerschaft dieser Männer gegen die Nazis
Schliessen und deren Verhalten zur Entlastung des
deutschen Volkes anführen. Gewiss, es ist nicht
viel, wenn inmitten der staatlich organisierten Ge-
meinheit, inmitten der Entrechtung und der höhni-
schen Grausamkeit irgendein kleiner Beamter eine
bescheidene Geste der Sympathie macht, dem aus-
geplünderten Juden etwa einen Stuhl anbietet, ihn
Öffentlich grüsst, es ist nicht viel, wahrhaftig nicht,
' aber in der Umgebung eines Spitzel- und Terror-
systems ist es eine Demonstration, eine sehr be-
scheidene Demonstration, die den Betreffenden die
Karriere und vielleicht sogar die Freiheit kosten
kann. Was aus der Entfernung armselig und billig
wirkt, .war unter den besonderen Umständen ein
Akt, der immerhin einen gewissen Mut erforderte.
Die Angelsachsen, in weit höherem Masse aber
noch die Russen, besetzen heute die Verwaltungs-
posten in Deutschland mit deutschen Antifaschi-
sten, die Russen erlauben vier antifaschistische Par-
teien in dem von ihnen besetzten Gebiet. Die Rus-
sen, in deren Land die braune Bestie barbarisch
hause, entdecken in Deutschland Antifaschisten in
Menge. Herr Bast hat sie noch nicht entdeckt. Irrt
hier Stalin? Oder irrt Bast?
"Es gibt Menschen, die heute die Ermordeten mit
der Schuld der Mörder belasten wollen", schrieb
der grosse jüdische Schauspieler Alexander Gra-
nach kurz vor seinem Tode im New Yorker „Auf-
bau" zur Rechtfertigung der deutschen Antifaschi-
sten. Die deutsche Opposition wies immer wieder
auf die Gefahr des Nazismus hin, als sehr viele Ju-
den sich noch in Deutschland in Sicherheit wiegten.
Wenn sie heute weiter ihre Stimme erhebt, so tut sie
nur ihre Pflicht, wie sie sie seit Jahren tat. Ein Wag-
nis kann sie darin nicht erblicken.
Der Bast'sche Hass ist verständlich, aber er ist ein
schlechter Ratgeber.
DIE SCHMACH VON MUENCHEN
Die Entwicklung der letzten Wo-
chen kann nur als sehr gefähr-
lich bezeichnet werden. Eine
ausgezeichnete Gelegenheit ist
verpasst worden. Das deutsche
Volk wollte keinen Krieg; die Ar-
mee würde alles getan haben,
ihn zu vermeiden. Lediglich Hit-
ler Himmler und Ribbentrop wa-
ren für Krieg. Die wachsenden
inneren Schwierigkeiten beunru-
higten sie. Andererseits machten
sie der Armee gegenüber kein
Hehl aus ihrer Ueberzeugung,
dass England und Frankreich
weder willens noch fähig seien,
die .Tschechoslowakei zu be-
schützen. Niemand in Deutsch-
land wollte ihnen dies glauben.
Doch sie behielten recht...
Sie können sich schwerlich die
Verzweiflung vorstellen, die im
Volke und auch in der Armee
gegen den brutalen und wahn-
sinnigen Schreckensdiktator und
seine Trabanten herrscht.
Hitler und Göring haben die gan-
ze Welt geblufft. Doch die Welt
war rechtzeitig gewarnt und un-
terrichtet worden. Wenn man
die Warnungen beachtet und
von Karl Gördeler
Der frühere leipziger Oberbürger-
meister, auf dessen Kopf die Na.
zis nach dem Attentat auf Hitler
eine Million gesetzt hatten und der
dann später von der Gestapo hin-
gerichtet wurde, ist der Verfasser
des folgenden Briefes. Wir entneh-
men ihn dem soeben im Verlag
Friedrich Krause, New York er-
schienenen Buche ..Gördelers Poli-
tisches Testament", das buchtech-
nisch ausgezeichnet, ausser der
Lebensbeschreibung Gördelers pro-
grammatische und kritische Aeu-
sserungen zum Nazi-Regime ent-
hält. Mit Recht wird in der Le-
bensbeschreibung gesagt, Gott —
Heimat — Familie seien die
Brennpunkte seines Lebens gewe-
sen. WeltanSchuung und Gesin-
nung Gördelers sind christlich-kon-
servativ und deutsch-national. Der
folgende Brief, den Gördeler nach
dem Münchner Verrat an einen
Freund in den USA geschrieben
hat, zeigt, dass ein energisches
Auftreten Englands und Frank-
reichs damals zum Sturz der Hit-
lerdiktatur hätten führen können.
danach gehandelt hätte, würde
Deutschland schon heute von
seinem Diktator frei sein und sich
gegen Mussolini wenden. In we-
nigen Wochen könnten wir da-
mit becsinjien, einen dauerhaften
Weltfrieden zu gestalten, der auf
Gerechtigkeit, Vernunft und An-
stand beruht...
Doch nun hat Herr Chambenain
alle Stellungen aufgegeben, oh-
ne auch nur das geringste Zu-
geständnis von Hitler zu e: hal-
ten. Nur ein guter Freund der
Diktatoren oder ein unerfahre-
ner Jüngling konnte so handeln.
Ich kann mir nur denken, dass er
und seine Ädelsklique selbst Fa-
schisten sind und sich einbilden,
das kapitalistische Profitsystem
mit Hilfe des Nationalsozialismus
retten zu können. Gerade das
Gegenteil ist richtig. ..
Das Münchener Abkommen war
nichts anderes als eine glatte
Kapitulation Frankreichs und
Englands vor aufgeblasenen
Gaukelspielern. Die Folgen hier-
aus dürften etwa so aussehen:
1.	Das Ende der Leidenszeit des
deutschen Volkes unter brutaler
Tyrannei und mittelalterlichen
Methoden ist weit hinausgescho-
ben worden.
2.	Frankreich hat in Europa jede
Ächtung verloren.
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
tf
3.	Englands Ruf hat schwer ge-
litten; ernste Auswirkungen wer-
den sich bald in seinem Empire
zeigen.
4.	Mussolini und Hitler haben
nicht mehr den geringsten Re-
spekt vor Frankreich und Eng-
land. Ich kenne ihre Pläne und
ihre Entschlossenheit. Schritt für
Schritt werden sie nun weiter
vorgehen. Ihr Ziel ist das engli-'
sehe Empire und das französische
Kolonialreich, das sie von Spa-
nien und Nordafrika aus errei-
chen wollen. Die englischen Do-
minien werden früher oder später
ihr Vertrauen in die Macht Eng-
lands verlieren. Inzwischen wird
Japan es für alle Weissen unmög-
lich machen, sich im Fernen
Osten zu betätigen. Dies dürfte
vor allem für Ihr Land (USA)
von Bedeutung sein.
5.	Die kleineren europäischen
Länder werden mit Hilfe der na-
tionalistischen Propaganda un-
terminiert werden.
6.	Ueberall werden Hitlers Pro-
pagandaleute verkünden, dass
allein der Nationalsoziaismus die
Welt retten könne, dass nur sein
System fähig sei, die politischen
und sozialen Pobleme zu lösen.
Welch ein Riesenbetrug! Alles,
was dieser wahnsinnige Hitler
kann, ist, öffentliche Gelder für
unnötige Zwecke auszugeben, ei-
ne Politik, die nur in Inflation
und Bankrott enden kann. Schon
seit Monaten mehren sich die
Anzeichen einer Inflation...
Indem Mr. Chamberlain vor ei-
nem kleinen Risiko zurückscheu-
te, hat er einen Krieg unvermeid-
bar gemacht. Das englische wie
das französische Volk werden
nun ihre Freiheit mit den Waffen
zu verteidigen haben, es sei
denn, dass sie ein Sklavendasein
vorziehen. Doch sie werden in
Zukunft unter' weit Mhwierigeren
Bedingungen zu kämpfen ha-
ben...
SCHULD UND VERANTWORTUNG
von Alfred Käseberg (Bolivien)
Am 5. März 1933 fanden in Deutschland Wahlen
statt, die bereits im Zeichen des Terrors der SA und
SS, der Einschüchterung, Bedrohung und des
Wahlbetrugs standen. Und dennoch erhielt Hitler in
dieser letzten Reichstagswahl nicht die Mehrheit.
Es stimmten gegen Hitler 44 V2 Prozent (17..516.000
deutsche Wähler), Hitler erhielt 43 Prozent der
Stimmen (17.265.000 Stimmen) und nur mit den 8
Prozent (3.132.000 Stimmen) der deutschen Natio-
nalisten, Junker, Grossindustriellen, der Militärka-
ste konnte die Regierung der sogenannten natio-
nalen Konzentration mit Hitler als Diktator an der
Spitze, die Herrschaft an sich reissen. Dieser Teil
des deutschen Volkes, der Hitler und die deutsch-
.nationale Partei des Herrn Hugenberg am 5. März
1933 wählte, trägt die volle Schuld für die Schmach
und Schande, die in der Folgezeit bis zum Zusam-
menbruch des 3. Reiches auf das gesamte deut-
sche Volk von Hitler geladen wurde, trägt die
Schuld für die innerdeutsche Verfolgung und Aus-
rottung deutscher Sozialisten, Demokraten, Juden
und Christen. Und ebenso ist dieser Teil des deut-
schen Volkes schuldig an dem furchtbarsten Krieg
aller Zeiten.
Der andere Teil des deutschen Volkes, der am 5.
März 1933 die Stimme der Humanität, der Demo-
kratie, des Friedens gegen die Diktatur Hitlers er-
hob, wurde mundtod und rechtlos gemacht. Viele
dieser deutschen Kämpfer für die friedliche Ver-
ständigung der Völker wurden bereits 1933 in Kon-
zentrationslagern gefangen gehalten, wurden ge-
martert, zerschlagen und systematisch auf die be-
stialischste Weise ausgerottet. Andere konnten sich
nur durch die Flucht in die Emigration retten. Wie
unerhört grausam Hitler gegen den Teil des deut-
schen Volkes handelte, der sich nie zu ihm bekannt
hat, kann die Welt heute in jenen- Filmen sehen,
die Augenzeugenberichte von den nazistischen
Konzentrationslagern im Jahre 1945 geben. Nach
einer Statistik der Zeitung des Gestapochefs Himm-
ler, „Das Schwarze Korpef, befanden sich allein im
Jahre 1938 etwa 1.000.0ÜU Deutsche in den Konzen-
trationslagern. Dieser Teil des deutschen Volkes,
der unsagbare Opfer an Gut und Blut für seine
demokratische Gesinnung und Treue gebracht hat,
der 12 harte Jahre und schon länger vorher den
blutigsten und opferreichsten Tribut für seine Frie-
densliebe zahlen musste, kann nie und nimmer für
die Welt verbrechen Hitler mitschuldig gesprochen
werden. Die Gerechtigkeit gebietet es, dass in der
Schuldfrage ein Unterschied gemacht werden
muss zwischen Nazis und Antinazis in Deutschland
wie im Auslande.
Von der Frage der Schuld ist völlig zu trennen die
der Verantwortung.
In der Frage der Verantwortung ist es zunächst
ganz selbstverständlich, dass der Teil des deut-
schen Volkes, der der jungen deutschen Demokra-
tie den Dolchstoss versetzte, in dem er Hitler zu
seinem Aufstieg in die Macht verhalf, die Volle Ver-
antwortung für alle Verbrechen Hitlers und seiner
Helfer zu tragen hat. Das gilt für alle Fragen der
Sühne und Wiedergutmachung. Wenn zum Beispiel
Zwangsarbeiter für den Wiederaufbau von Russ-
land gefordert werden, dann sollte der ernsthaft®
Versuch unternommen werden, nur die tatsächli-
chen Nazis dazu heranzuziehen. Es ist nicht ge-
recht, ganz allgemein die in Russland kriegsgefan-
genen Soldaten ohne jede vorherige Prüfung zum
Wiederaufbau zu verwenden. Denn auch unter den
gefangenen deutschen Soldaten in Russland be-
finden sich sicherlich sehr viele, die sich niemals
zu Hitler bekannt haben, und die gegen ihren ei-
genen Willen Soldat und Angreifer spielen muss-
ten.
Alle ausserordentlichen Opfer, die verlangt wer-
den müssen, um im Rahmen des Menschenmögli-
chen gutzumachen, sollten in allererster Linie den
tatsächlichen Nazis auferlegt werden. Dabei dürf-
te in keiner Weise vor jenen Ausländsdeutschen
Halt gemacht werden, die im Auslande als 5. Ko-
lonne im Dienste Hitlers und seiner weltverbreche-
12
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
risch'en Ideen standen. Mit all iHrem Hab' und Gut,
mit ihrem gesamten Vermögen sollten die Nazi-
Auslandsdeutschen zum Wiederaufbau, zur vollen
Verantwortung im ganzen Umfange herangezogen
werden. Denn warum sollen in Deutschland Millio-
nen am Nazismus und Krieg unschuldiger Men-
schen hungern, darben, opfern, wenn es wahren
Schuldigen im Auslande gelingen sollte, sich von
Schuld, Sühne und Verantwortung zu drücken? Es
dürfte dabei auch gar keine Rolle sielen, wenn
solche mitschuldigen Nazi-Auslandsdeutsche sich
inzwischen durch die Annahme von zwei oder drei
anderen Staatsbürgerschaften jedweder Mitverant-
wortung zu entziehen versuchen, in dem sie sich
darauf berufen, sie seien nicht mehr Deutsche, son-
dern Bürger anderer Nationen.
Wir deutschen Sozialisten und Demokraten bean-
spruchen mit allen nachweisbaren Rechten eine
Ausnahmestellung. Jedoch bekennen wir uns des-
sen ungeachtet für voll verantwortlich für die Wie-
dergutmachung der Schäden, die angerichtet wor-
den sind. Wir fühlen uns dafür verantwortlich, das
deutsche Volk mit allen seinen guten und nützli-
chen Werten neu zu formen und es in den Dienst
der Humanität, der Weltdemokratie, des Weltfrie-
dens zu stellen. Wir sind überzeugt, dass die Ueber-
lebenden aus den Konzentrationslagerhöllen, dass
die illegalen Kämpfer gegen Hitler in Deutschland,
dass die politische Emigration die Kräfte verkör-
pern, die das deutsche Volk in seiner Gesamtheit zu
einem friedliebenden und demokratischen Volk er-
ziehen und den besten Teil zur Wiedergutmachung
leisten können.
Was Deutschland und das deutsche Volk in der
Welt gefürchtet, verhasst gemacht hat, was
Deutschland auf die tiefste Stufe der Schmach,
Schande und Erniedrigung geführt hat, ist immer
nur der militante angriffslustige Ungeist von Pots-
dam gewesen, der Gesellschaft, Staat, Wirtschaft,
Schule beherrschte. Die Träger dieser verhängnis-
vollen Politik waren in Deutschland zu allen Zeiten
der neueren Geschichte die Junker, die Industrie-
barone, der preussische Militarismus.
Was aber Deutschland und das deutsche Volk in
aller Welt beliebt und geschätzt gemacht hat, das
waren Fleiss und Exaktheit des deutschen'Arbei-
ters, war die deutsche Qualitätsarbeit, waren die
Leistungen und Werke der deutschen Wissenschaft
und Technik, der Forscher und Erfinder, der schaf-
fenden und gestaltenden Kunst, der Literatur. Dazu
muss das deutsche Volk wieder zurückgeführt wer-
den.
BERICHTE AUS DEUTSCHLAND
Von einem seiner eigenen Korres-
pondenten im Reich erhielt DAD
den folgenden Bericht über die
Spuren und die jetzige Tätigkeit
der Hitlergegner in der anglo-
amerikanischen Zone:
Dortmund. Leider ist es den Nazis ge-
lungen, in den Gefängnissen des
Ruhrgebiets noch kurz vor dem Ein-
treffen der Alliierten 5.000 deutsche,
politische Gefangene umzubringen. In
der Dortmunder Stadtverwaltung sind
hefttte 3 SPD-Leute und 3 KPD-Leu-
te. Sie arbeiten reibungslos mit den
Besatzungsbehörden zusammen. Der
Bergarbeiter-Verband ist schon wie-
der ins Leben gerufen worden. Ue-
berhaupt sind die Menschen des
Ruhrgebiets sehr aktiv. Sie kommen
aus Entfernungen von mehr als 100
Kilometern, um sich bei den erprob-
ten Antifaschisten Rat zu holen für
die Wiederauflbau-Arbeit. Viele von
ihnen fragen, warum die Emigran-
ten, die aus politischen Gründen vor
Hitler flüchten mussten, noch nicht
wieder zurückgekehrt sind.
Bochum: Es sind mit Zustimmung
der Besatzungsbehörden in so gut
wie allen Betrieben Betriebsausschüs-
se gegründet worden.
GcIsenkirchen: Noch vor dem Abzug
der Nazis hatten sich einige SPD-
Leute zusammengefunden, um eine
Stadtverwaltung vorzubereiten, die sie
dann den Alliierten vorstellte und
die bisher im Amt verblieb. Es
scheint sich um sehr entschlossene
Menschen zu handeln. Interessant
ist, dass dort etwa 700 Exemplare
des Sofort-Programmes der SPD kur-
sieren. Bs wird eifrig diskutiert und
stösst auf allgemeine Zustimmung.
Hannover. Hier sind unsere Freunde
in voller Tätigkeit. Aus dem nahelie-
genden Hameln war gebeten worden,
man möge Referenten schicken für
die Gründung der freien Gewerk-
schaften. Der Sekretär des Fabrikar-
beiterVerbandes, K. und H. B., die
beide eng zusammenarbeiten, fuhren
hin. Sie erfuhren, dass auf Anord-
nung der Besatzungsbehörden und
•aus Gründen der Demokratie auch
Unternehmer geladen waren- Tatsäch-
lich waren 50 Unternehmer und 50
Arbeiter anwesend. Fabrikarbeiter K.
benutzte die Gelegenheit, sich sehr
eingehend mit den Unternehmern und
ihrer Rolle während des Nazismas
auseinanderzusetzen. Das Ergebnis
war, dass d e Betriebsausschlüsse am
andern Tage wie am Schnürchen
klappten. Den Gewerkschaften ist die
Arbeit in den Betrieben noch niemals
so leicht geworden wie dieses Mal.
Sowohl B. als auch H. haben ein
sehr gutes Verhältnis zu den Besat-
zungsbehörden. Neben der Gewerk-
schaftsarbeit und der Vorbereitung
für die politische Arbeit gibt es auch
einen Kreis guter junger, fortschritt-
licher Intelektueller.
Göttingen: Auch hier war der Be-
such eine grosse Freude. So viel leb-,
hafteste Aktivität fanden wir vor.
Unsere Freunde in ihrer besten Zeit,
lebhafter als ich sie je gekannt ha-
be und offenbar in Fragen der Erzie-
hung sehr herangezogen . . . Bei der
generellen Reinigung des Lehrkör-
pers (Parteimitglieder vor dem 1 4.
1933) rechnen sie mit einem Ausfall
von 20 ojo. Danach werden dann die
Säuberungen indiv'duell durchgeführt.
•Sie sind im Stadtrat. Es gilbt ausser-
dem noch einige Kreise von Studen-
ten und Lehrern, die sich am Neu-
aufbau aktiv beteiligen wollen
Bei den Lehrern handelt es sich um
solche wie Nohl, Lietzmann, Pallad,
Kampfei u. a. Es war merkwürdig,
wie sich das Milieu einer Universi-
tätsstadt im Kleinen hier widerspie-
gelte. Man spürte wirklich ein star-
kes Bedürfnis auch nach einer kultu-
rellen Neuorientierung . .
Kassel: M. ist nach 9 112 Jahren aus
Buchenwald zurück. Wir hatten vor-
gehabt, ihn gleich zur Erholung in
die Schweiz zu schicken. Er fühlt
sich nicht so krank, wenn er natür-
lich auch etwas Ruhe und gute Pfle-
ge nötig hätte. Aber im Ganzen ist
er der Alte. Sachlich und fast nüch-
tern erzählt er, aber nicht über seine
persönlichen Leiden, sondern über die
Beziehung der Lagerinsassen zuein-
ander, über die Kontakte, die sich ge-
bildet haben, alles unter dem Ge-
sichtspunkte einer fortschrittlichen
Arbeit für die Zukunft ... So nüch-
tern die Zahlen seines Berichtes sind,
geben sie doch schon in dieser Form
ein anschauliches Bild einer der
Schandstätten des Nazismus. M. hat
nicht den Eindruck, dass sich wirk-
lich dauerhafte Beziehungen unter
den Häftl'ngen der verschiedenen
Nationen gebildet halben. Im allge-
meinen fand er bei allen einen ziem-
lichen Nationalismus vorherrschend
und eine daraus resultierende Ab-
Schliessung von anderen Nationen.
Selbst nach Eintreffen der Alliierten
hat sich daran nicht viel geändert,
ausser dass beim Abgang der ver-
schiedenen Landsmannschaften in
ihren Abschiedserklärungen auch der
Kameraden aus den anderen Ländern
gedacht wurde. M. steckt nun schon
0 A r ANDERE DEUTSCHLAND	13
"eitder ln Kassel mittcn in der M~ Aus der deutschen antifaschistischen Bewegung
Hamburg: Das Gewerkschaftsbaus
(über das Robert Brousson in No. 97
DAD berichtet hatte), ist nun endlich
den deutschen Gewerkschaftlern frei-
gegeben worden.
Köln; Der alte Sozialist B. ist Leiter
des Arbeitsamts geworden. Er hat
ziemliche Mühe, Arbeitswillige zu fin-
den. Der Grund liegt nicht nur in
schlechtem Willen, sondern auch in
der — im Verhältnis zur Nazi-Zeit —
stark herabgesetzten Ernährung, die
die Menschen veranlasst, die eigenen
Gärten zur Erzeugung von Gemüse
zu bearbeiten oder ihre beschädigten
Wohnungen wieder in Stand zu set-
zen. Da vorläufig bei vi/elen noch
kein Mangel an Geld vorliegt .
ist der Druck, gegen Lohn zu arbei-
ten, nicht vorhanden, bass die Na-
zis keineswegs verschüchtert sind,
kannst Du» daraus ersehen, dass der
SS-Mann, in dessen Wohnung B.
jetzt wohnt kürzlich nach Köln kam,
von wo er zunächst geflüchtet war.
Er wurde in der Stadt schon erkannt,
ehe er bei seiner Wohnung anlangte
und man liess ihn verhaften. Die
Frau hatte trotzdem den Mut, ihre
Wohnung zurückzuverlangen und, als
sie damit nicht durchkam, mit einem
Polizisten zu kommen, um ihre Mö-
bel herauszuholen. Das ist ihr nicht
gelungen- Doch dieses kleine Beisp'ei
zeigt die Hartnäckigkeit dieser Leu-
te.
IN DEUTSCHLAND
Einen antifaschistischen Block haben
die in Berlin bestehenden vier Partei-
en gebildet: KPD, SPD, Christlich-
Demokratische Union und Liberale
Partei.
Das neue Zentralkomitee der KPD
in Berlin besteht in der Hauptsache
aus Mitgliedern des früheren Zentral-
komitees. Besondere Bedeutung hat
Wilhelm Pieck, der vor dem ersten
Weltkrieg in der SPD eine Rolle spiel-
te, nach dem Krieg kommunistischer
Reichstagsabgeordneter und zeitwe1-
se Vorsitzender des Zentralkomitees
der K. P. war.
Ein "Zentralausschusss der SPD" hat
sich in Berlin gebildet. Vorsitzender
ist Otto Grotewohl, früher Parteise-
kretär in Braunschweig und M. d. R..
Ferner gehören ihm an Gustav Dah-
rendorf, Redakteur des hamburger
"Echo" und M. d. R., Carl Liedtke,
2. Vorsitzender der SPD Gross-Berlin
und M. d. R-, Max Fechner und Ot-
to Meyer, beide Mitglieder des Preu-
ssischen Landtags, und Richard Wei-
mann, Sekretär des R'eichsa-usschus-
ses für sozialistische Bildungsarbeit.
Die Zentralkomitees der SPD und
KPD haben am 26. Juni einen ge-
meinsamen Arbei tsausschuss gebildet,
der sich zur Aufgabe gestellt hat:
Ausrottung des Nationalsozialismus,
Aufbau der demokratischen Republik,
Veranstaltung gemeinsamer Ver-
sammlungen, Diskussion ideologischer
Fragen.
SCHWEIZ
In der Schweiz bestehen drei politi-
sche Gruppen der deutschen Emi-
granten: l. Die "Union deutscher So-
zialisten", die eine Monatszeitschrift
"Neues Deutschland" herausgibt. 2.
Das Freie Deutschland. Es tritt für
Schwarz-Weiss-Rot ein. 3. Das Demo-
kratische Deutschland, dem Demokra-
ten, Katholiken und Evangelische an-
gehören. Aufnahmebedingung ist der
Nachweis, dass man nicht mit den
Nazis zusammengearbeitet hat und
das Bekenntnis zur Demokratie. Zwi-
schen 1 und 3 besteht eine Arbeits-
gemeinschaft.
ENGLAND
In England hat die "Union deutscher
Sozialisten", in der SPD, SAP, Neu-
beginnen und ISK zu einer Arbeitsge-
meinschaft zusammengeschlossen sind,
ein "Sofortprogramm für die örtliche
Selbstverwaltung" in Deutschland
ausgearbeitet, dem angesichts der
Kundgebungen der alliierten Befehls.'
haber in Deutschland über die Zulas-
sung der lokalen Selbstverwaltung er-
höhte Bedeutung zukommt. Wir wer-
den noch ausführlicher auf dieses
Programm eingehen.
BOLIVIEN
In der von ihr entfalteten Werbe-
und Bildungstätigkeit hat die Orts-
gruppe La Paz des "Anderen Deutsch-
land" weitere gute Erfolge zu ver-
zeichnen. Dr. Löhnberg hielt einan
Vortrag über: "Die stunde der Ent-
scheidung", worin zu dem unter dem
gleichen Titel erschienenen Buche des
ehemaligen amerik. Unterstaatsse-
kretärs Sumner Welles vom Stand-
punkt des "Anderen Deutschland"
aus kritisch Stellung genommen wur-
de. Am 28. Juni wurde die General-
versammlung mit Rechenschaftsbe-
richt und Neuwahl des Vorstandes
abgehalten, die einen sehr guten Ver-
lauf nahm. In den Vorstand der Orts-
gruppe wurden folgende Gesinnungs-
freunde gewählt: W. Karbaum (Prä-
sident), F. Behrendt (2. Vorsitzender),
Dr. Löhnberg (Sekretär), B. Gr°d-
zinski (Kassierer); sowie folgende
Beisitzender: Dr. A Finkelstem, E.
Fuchs, K. Marienthal, S. Josias, Wu-
und der Verwaltung, Mithilfe an
Volksbildung und Jugenderziehung.
Andere Punkte beziehen sich auf das
neue Arbeitsrecht, Vertretung der
Gewerkschaften in allen öffentlichen
Stellen, Uebernahme des Vermögens
der "Arbeitsfront", Wiedereinführung
des • Streikrechts, 40-Stundenwoche
und Einsetzung des 1. Mai als Fest
des internationalen Proletariats.
Wie man sieht, enthalten sich ^ die
Gewerkschaften im Prinzip jeder
Aufnahm» von programmpunkten,
die zu religiösen oder politischen Dif-
ferenzen Anlass geben könnten.
DIE NEUGESTALTUNG DER GEWERKSCHAFTS-
BEWEGUNG IN DEUTSCHLAND
Die Neugestaltung der Gewerkschafts-
bewegung in Deutschland hat einge-
setzt. Die Russen hatten gleich von
Anfang an innerhalb ihrer Zone Ge-
werkschaften erlaubt, aber auch die
alliierten Militärbehörden widersetzen
sich nicht mehr, wie das zuerst ^ der
Fall war, dem Wunsch der Arbeiter-
schaft, sich gewerkschaftlich zu orga-
nisieren.
Die neuen Organisationen wachsen
in demokratischster Form aus den
Betrieben und Arbeitsstellen, wo die
Leiter im illegalen Kampf und alte
Gewerkschaftler gleicherweise zu
Funktionären der neuen Organisatio-
nen gewählt werden. Diese entstehen
auf breitester Grundlage, weil der
allgemeine Wunsch besteht, alle Ar-
beiter in einer Organisation zusam-
menzufassen, in der religiöse und
parteipolitische Differenzen völlig
ausgeschlossen sein sollen. (Diese
Tendenz besteht in ganz Europa, z.
B. auch in Frankreich und in Ita-
lien).
Die meisten der neuen Organisatio-
nen sind vorläufig nur lokal, wenn
auch der Wille besteht eine Zusam-
menfassung im Provinz- bezw. Reichs-
masstabe herbeizuführen. Dem ste-
hen aber grosse Schwierigkeiten ge-
genüber; die völlige Desorganisation
des Transportwesens, die Grenzzie-
hung der verschiedenen Besatzungs-
zonen etc. Die lokale Bedeutung aber
der Gewerkschaften wächst durch
Beteiligung an der Kommunal-
Verwaltung als einzige demokratische
Lebensäusserun g des Volkes. (Das
gilt zum mindesten für die von den
Alliierten besetzte Zone. Die Russen
haben schon politische Parteien zu-
gelassen, die diese Aufgabe überneh-
men).
Die deutschen Arbeiter sind sich wohl
i.m klaren über die ungeheuer schwe-
re Aufgabe, die ihnen bevorsteht. Des
neugewählte Vorsitzende des Ge-
werkschaftsbundes in Aachen z. B.
sagte bei der Amtsübernahme: "Wir
haben eine schwere' Aufgabe zu er.
füllen. Mit Mut werden wir ihr ge.
gegenübertreten. Die Nazis haben uns
alles genommen. Aus dem Nichts
müssen wir jetzt das Neue schaf-
fen" — "Als höchstes Ziel müssen
wir vor Augen haben, das Vertrauen
der ganzen Welt zu gewinnen, damit
wir wieder eine brüderliche Hand
den Genossen anderer Länder rei-
chen können".
Mitglieder der neuen Organisationen
können alle werden, die nicht der Na-
zipartei angehört haben. Das Pro.
gramm der loyalen Gewerkschaften
umfasst im wesentlichen überall die
gleichen Punkte: Propagierung der
Verständigung unter den Völkern Eu-
ropas, Zusammenarbeit mit der Welt-
gewerkschaftsbewegung, Kampf ge-
gen Faschismus und Militarismus,
Entfernung- aller Nazielemente aus
den wirtschaftlichen Machtpositionen
14
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
DAS GESICHT DER ZEIT
Ii Schnitte. — Arn 12. Juli fand ein
PUmabend statt, in welchem s. Jo-
sias ein orientierendes Referat über
"Politische Tagresfragen" hielt, und
am 26. Juli hielt der ehemalige Stu-
dienrat an der Karl Marx-Schule in
Berlin, Dr. Bernhard Krakauer, einen
Vortrag über das hochaktuelle The-
ma: "Erziehung zum freien Menschen-
tum". Dem Vortrag folgte eine leb-
hafte und angeregte Diskussion. —
Für die folgende Zeit sind weitere
Referate und Veranstaltungen vorge-
sehen. So wird Gen. Dr. Pinkelstein
am 11. August aus Anlass der Wie-
derkehr der Verkündigung der Wei-
marer Verfassung ein Referat über
die politische und soziale Bedeutung
der ersten freiheitlichen deutschen
Reichsverfassung im Löchte der fol-
genden und der heutigen Ereignisse
halten; am 30. August spricht der
ehemalige Gewerkschaftssekretär
Ernst Fuchs über "Machtfragen in
Politik und Wirtschaft". — Die Orts-
gruppe La Paz gibt seit kurzem e n
eigenes, für die Informierung der
Mitglieder bestimmtes "Mitteilungs-
blatt" heraus. — Mitteilung: Alle in
Bolivien ansässigen, ehemaligen frei-
en Gewerkschafter werden hiermit
auch auf diesem Wege gebeten, Ihre
Personalien direkt an das Sekreta-
riat in La Paz, cjo Guillermo Kar-
baum, Casilla 323, einzusenden.
EINEN AUFRUF AN DIE EMI
GRIERTEN SCHAUSPIELER richte-
ten die deutschen Schauspieler in
Zürich, an ihrer Spitze der "Moor-
eoldat" Langhoff. Sie wenden sich
an alle, die gewillt sind, trotz schwer-
ster Lebensbedingungen nach
Deutschland rarück*ukehren. Sie wol-
len die Nazis von den deutschen Büh-
nen ausschliessen und alles tun, was
in ihren Kräften steht, um das deut-
sche Theater wieder-aufzubauen.
Wie wir erfahren, sind die Angehöri-
gen der Freien Deutschen Btthne in
Buenos Aires bereit, dem Rufe ans
Zürich Folge su lebten.
Blätter der
mm ■ %m M» % V» ■	I
SCHAEDEN IN WIEN
Stadtrat Genosse Honay, der neue
Finanzreferent der Gemeinde Wien,
in einer Versammlung der Selbstän-
dig Erwerbenden Sozialisten: "Wir
haben eine schwierige Erbschaft über-
nommen. Als wir die Gemeindever-
waltung übernommen haben, hatten
wir- 51.496 Arbeiter und Angestellte,
für die kein Geld da war. Heute ha-
lben wir für 51.183 Kinder und rund
54.000 alte Leute zu sorgen, die von
der Gemeinde Beihilfen bekommen.
Wir haben viele andere Verpflichtun-
gen. An Gemeindesteuern nehmen
wir jährlich nur 54 Millionen RM ein.
Wir müssen für zahlreiche frühere
Konzentrationslagerhäftlinge sorgen,
die alle mittellos sind, denen wir Er-
nährung und Obdach beistellen. Zahl-
lose Opfer des Naziterrors melden
sich1 jeden Tag im Rathaus und ver-
langen, dass wir das ihnen zugefügte
Unrecht gutmachen; ihre Zahl be-
trägt bereits mehr als 10.000. Die
schwersten Fälle wurden ins Schloss
URTEILE UEBER DEUTSCHLAND
Associated Press: Die dem besiegten
Deutschland auferlegten Bedi ngungen
lassen den Vertrag von Versailles uls
ein Kinderspiel erscheinen.
Wilhelm Pieck, der Vorsitzende der
deutschen K. P. in der "Deutschen
Volkszeitung": Die Alliierten hs-ben
sich grossherz g erwiesen und deut
lieh ihr Bestreben gezeigt, das deut-
sche Volk nicht zu vernichten oder
zu versklaven. Die Erklärung ist ein
Lichtstrahl für unser Volk,
Massenweise Selbstmorde sind nach
einer Mitteilung von "Tidningen" die
Antwort in Deutschland selbst. 'In
der vergangenen Woche", so meldet
"Tidningen", "haben sich das Leben
genommen, in Berlin 1.200, in Leip-
zig 600, in Hamburg und Frankturt
a. M. je 450. in Köln 300 Menschen,
hauptsächlich Intellektuelle und
Kaufleute m t ihren Familien.
Frankreich, d h. die Regierung de
Gaulle, würde es nach einer Nach,
richt des Kriegskorrespondenten von
"The New York Times" gerne se-
hen, wenn die deutsche Bevölkerung
als Resultat der Potsdamer Beschlüs
se zurückgehen würde (diesen!
Wunsch tragen die Selbstmorde
Rechnung). Es möchte das eigene In-
dustriepotential auf Kosten Deutsch-
lands steigern und den Rhein zu bei-
den Seiten, sowie das Ruhrgebiet be-
setzen. Weiter will es die Lieferung
von Waren, Arbeitern und Kohle als
Reparationsleistung.
Pastor Niemöller ist nach einer Mel-
dung der ONa von den Amer'ka-
nern für die spätere deutsche Zen-
tralregierung in Aussicht genommen.
Jedenfalls war er in den letzten Wo-
chen ein eifriger Besucher des ame-
Wilhelminenberg geschickt.- Lebens-
mittel, die Russland beigestellt nat,
haben gerade noch rechtzeitig eine
furchtbare Hungersnot in Wien ver-
hütet.
Es gibt viele andere Schwierigkeiten-
55 Schulgebäude sind während d??
Krieges vollständig zerstört wor ien
und 67 schwer beschädigt. Die SS hat
120 von den 960 Brücken in Wien ge-
sprengt, darunter die Floridsdorfer
Brücke mitsamt der Gasrohrleitung.
An dem Bau einer Gasrohrleitung
von Alsterdorf w'rd gearbeitet. Das
Holzstehlen, das jetzt im Gang ist,
muss aufhören. Wir müssen Kohle
für den Winter bekommen; es sind
Verhandlungen im Gang, Kohle von
Mährisch-Ostrau und vom Donetzbek.
ken zu kriegen. Es fehlt an Repara-
turmaterial. Zur Wiederherstellung
von 6000 km Oberleitung der Stra-
ssenbahn, von denen 400 km zerstört
sind, brauchen wir 12.250 kg Ktipfer-
draht. Der Wagenpark der Strassen-
bahn ist stark zusammengeschrumpft,
rikanischen Hauptquartiers und Ro.
bert Murphys.
AIs orthodoxer Christ war Niemö '.er
ein mut'ger Gegner des Nationale
zialismus, soweit dieser ein Feind des
Christentums war. Im übrigen ist er
Nationalist geblieben. Ob er wie nach
dem ersten Weltkrieg, wo der frühe-
re U-Boot-Kommandant aktiv gegen
die Arbeiter gekämpft hat, auch ein
Feind des Sozialismus und der Arbei
terklasse geblieben ist. wissen wir
nicht. Wir glauben aber, dass gerade
sein christlich-konservativer Charak-
ter Herrn Pastor Niemölier den ame.
rikanischen Besatzungsbehörden emp-
fehlenswert erscheinen lässt.
Mihailowitsch erschien einst in der
gesamten Weltpresse als legendenum-
wobener Freiheitsheld und Vorkämp-
fer gegen die Nazis. — Heute stehen
die Mitglieder des Zentralkomitees
von Mihailowitsch in Belgrad vor Ge-
richt wegen Landesverrat und Unter-
stützung der Nazis.
J. Avenol, der langjährige General-
sekretär des Völkerbundes, wird von
Alvarez del Vayo, dem Völkerbunds-
vertreter der spanischen Republikak
als "einer der grössten lebenden
Kriegsverbrecher" bezeichnet.
Einsicht.
"W!r haben die Hitlerdiktatur nicht
vernichten können, weil die deutsche
Arbeiterklasse gespalten war", erklär-
te Otto Brass in Berlin, in einer Ver-
sammlung, die von 300 früheren Ge-
werkschaftsfunktionären besucht war.
Die meisten von ihnen waren aus
dem KZ entlassen worden — so mel-
det das moskauer Gewerkschaftsblatt
"Trud". Wir hoffen, dass man aus
d eser Einsicht hier und ddt-t die
richtigen Konsequenzen ziehen wird.
von 1400 Triebwagen sind nur mehr
400 übrig, von 1900 Beiwagen 800.
1934 hatten wir 183 Kehrrichtabfuhr-
wagen: heute sind es 11. Während
des Krieges entstanden 1378 Wasser-
rohrschäden, von denen bisher 530
repariert worden sind. Weitere 350
Reparaturen sind im Gang und noch
mehr wurden jetzt in Arbeit genom-
men. Wir haben 12.250 Quadratmeter
Strassenfläche wiederhergestellt- Die
Wohnhau?frage hängt vom verfügba-
ren Material ab: wir würden 500 Mil-
lionen RM brauchen, um alle zerstör-
ten Gebäude zu reparieren. Diese Wie-
derherstellung kostet Zeit. Kleine
Schäden sollen zuerst repariert wer-
den. Die Lage der Kommunal Spar«
kasse war kritisch, weil die Nazibon-
zen mit Millionen davon sind; des,
wegen die Beschränkung der Abhe-
bungen auf 1.000 RM. Der Gemeinde
war es möglich, Vorschüsse auf die
Gehalte von 150 RM für Juni zu be«
zahlen: dies ist das Existenzminimum,
das alle, die höchsten wie die niedrig-
sten Aneestellten erhalten. Die glei
österreichischen Sozialisten
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
15
che Auszahlung im Juli wird grosse
Schwierigkeiten bereiten."
ORGANISIERUNG DER
LANDWIRTSCHAFT
Landwirtschaftsminister Buchinger
(chrsoz.) sagte in einer Radioanspra-
che: "Die Bauernkammern in den ein-
zelnen -Ländern sollen wiederherge-
stellt werden, sie ihrerseits sollen die
Bezirksbauernkammern einsetzen. Die
landwirtschaftlichen Genossenschaf-
ten sollen ihre Tätigkeit wieder auf-
nehmen.
Gewaltige Arbeit ist zu leisten. Als
ein alter selbständiger Bauer weiss
ich nur zu gut, dass kein Bauer
staatliche Eingriffe gern hat. Aber
ein Notstand erfordert immer gew'sse
Eingriffe in die freie Wirtschat, oh-
ne die eine gerechte Verteilung un-
ter den Konsumenten unmöglich ist.
Die österreichischen Bauern blicken
auf sieben Jahre zurück, in denen
das Wort Freiheit verpönt war; die
Staatsaufsicht ging so weit, dass uns
fast ein ständiger Aufseher in jedes
Bauernhaus gesetzt wurde. Aber jed'jr
von uns versteht, dass es nicht recht
wäre, heute die Verteilung der Le-
bensmittel, die wir erzeugen, dem
freien Handel zu Uberlassen. Wir wol-
len ernsthaft an die Aufgabe heran-
gehen, den Höchstertrag aus unserem
Heimatboden herauszuholen; Als Pro-
duzenten müssen wir dafür sorgen,
dass das österreichische Volk sein
Brot bekommt. Wir müssen die Bau-
ernhöfe und die Verwaltung in Ord-
nung bringen; die Verteilung unserer
Erzeugnisse muss bis auf weiteres
vom Staat gelenkt worden. Diesbezüg-
liche Gesetze sind bereits in Vorbe-
reitung. Der übermässige Apparat des
Reichsnährstandes soll aufgelöst und
die damit verbundenen Aemter liqui-
diert werden. Neue Einrichtungen sol-
len an ihre Stelle treten. Wir hoffen
mit fünf Wirtschaftsverbänden aus-
zukommen: für Getreidebau, für
Viehzucht, für Milchwirtschaft und
Fetterzeugung, für Gemüsebau. Erd-
äpfel und Weinbau, und für Zucker-
produktion.
PARTEINACHRICHTEN
Karl Seitz ist Vorsitzender, Dr. Schärf
und Oskar Helmer (Wiener Neustadt)
sind seine Stellvertreter im neu kon-
stituierten Parteivorstand dar Oester-
reichischen Sozialisten; Genosse Ren-
ner wurde für die Dauer seiner Re.
gierungsfunktion von der Parteitätig-
keit beurlaubt.
Seitz ist am 23. Juni, von der Wiener
Bevölkerung jubelnd begrüsst, nach
Wien heimgekehrt. Er war im Okto-
ber 1944 von der Gestapo unter der
Beschuldigung verhaftet worden, dass
er mit Dr. Gördeler, dem zivilen
Haupt der Verschwörung gegen Hit-
ler, in Verbindung gestanden habe.
Bis März 1345 verblieb er in einem
Konzentrationslager, von dort wurde
er als Schutzhäftling nach Place in
Thüringen gebracht.
OEFFENTLICHE VERWALTUNG
Leopold Kunschak wurde als Staats,
minister des politischen Rats, der dem
Bundeskanzler Dr. Renner von den
drei Parteien der Regierungskoalition
beigegeben ist, durch Fi gl, gewesenem
Direktor des Niederö^terreiehischen
Bauernbund, ersetzt. Figl ist auch
Landeshauptmann von Niederöster-
reich.
Die Salzburger Landesregierung, von
der amerikanischen Besatzungsbehör-
de ins Amt berufen, besteht aus Dr.
Adolf Schemel (Landeshauptmann,
Katholik) Anton Neumayer (Stell-
vertreter, Sozialist) und den Landes-
räten Bartholomäus Hasenauer - (Ka-
tholik), Franz Peyerl (Sozialist),
Hans Meisnitzer (Kommunist), Her-
bert Gross (parteilos).
In Oberösterreich ist Eigl (Soz'alist)
Landeshauptmann, Dr. Gleissner
(Katholik), sein Stellvertreter; Dr.
Koref (Sozialist) ist Bürgermeister
von Linz, Oberhuber (Katholik) sein
Stellvertreter.
Tiroler Landeshauptmann ist Dr. Gru-
ber (parteilos), sein Stellvertreter ist
Weissgatterer (Katholischer Land-
wirt); Mitglieder der Landesregierung
sind drei Katholiken, zwei Sozialisten,
Dr. Höflinger und Hüttenberger, und
der kommunistische Genosse Rone-
zay.
Der neue Bürgermeister von Villach,
Genosse Viktor Petschnigg, illegaler
Kämpfer unter der Schuschnigg-Dik-
tatur, durch seine tapfere Haltung im
Klagenfurter Prozess gegen die Revo-
lutionären Sozialisten bekannt, orga-
nisierte zusammen mit Genosse Hans
Piesch, dem gegenwärtigen Landes-
hauptmann, seit Januar 1945 den il-
legalen Widerstand gegen die Nazis.
In Vorarlberg setzte die französische
Besatzungsbehörde den einstigen Lei-
ter der Vaterländischen Front v>nd
Unterstaatseekretär des Dollfuss Ul-
rich Ilg als Landeshauptmann ein.
Der Landesregierung gehören noch
drei weitere Christlichsoziale und die
Sozialisten Jakob Bertsch, Hans Mai-
er und Emil Lessner an; die Kommu-
nisten sind in der Regierung nicht
vertreten.
SOZIALPOLITIK UND
GEWERKsSCH XFTSWESEN
In einer paritätischen Konferenz der
Unternehmer, und Arbeitervertreter,
die unter dem Vorsitz des Sozia^itni-
nisters, Genossen Böhm, und in An-
wesenheit des Unterstaatssekretärs
Weinberger (chr.soz.) stattfand, wur-
den sozialpolitische Fragen behandelt.
Es wurde beschlossen, dass die Ent-
lassung von Arbeitern nur mit Zu-
stimmung eines paritätischen Aus-
schusses unter dem Vorsitz des Amts-
leiters des beruflich zuständigen Ar-
beitsamtes erfolgen kann. Bei be~
triebseinschränkungen müssen sozia-
le Gesichtspunkte beachtet werden.
Nazis kommen als erste dran. Das Ar-
beiter.Urlaubsgesetz und die Urlaubs-
vorschriften de.? Angestelltengesetzes
sind 1945 durchzuführen: Urlaube, die
1944 nicht absolviert werden konn-
ten, sind 1945 nachzutragen.
Als Gewerkschaftsorgar erscheint
zweimal im Monat "Der Oesterreichi-
sche Arbeiter und Angestellte".
Unterstaatssekretär Alois Weinber-
ger war Beamter der Bundesländer.
Versicherungsanstalt. Nach der Auf-
lösung der Freien Gewerkschaften
durch die Austrofaschisten wurde er
zum Obmann der Versichenmgsange-
steilten in der Einheitsgewerkschaft
ernannt. Für die kommunistische
Partei ist Gottlieb Fiala Unterstaats-
sekretär.
ERNAEHRUNG
Für den Bezug ihrer Lebensmittelra-
tionen werden die Wiener in vier
Gruppen eingeteilt. Die Brotration
beträgt in den vier Gruppen 450, 400,
300 und 250 Gramm oder drei Viertel
des Gewichts in Mehl. Iii der unter,
sten Gruppe der nicht in Arbeit ste-
henden, die auch die Hausfrauen mit
umfasst, besteht die Ration aus 250
Gramm Brot und 7 Gramm Fett pro
Tag, 150 Gramm Zucker, 250 Gramm
Ersatzkaffee per Monat, dazu gele-
gentliche zusätzliche Zuteilungen, z.
B. Rollgerste. Selbst diese mageren
Rationen könnten ohne die von der
Roten Armee zur Verfügung gestellten
Nahrungsmittel nicht aufrechterhalten
werden. Kanzler Renner schrieb am
16. Mai an Generalissimus Stalin, um
ihm die verzweifelte Ernährungslage
Oesterreichs zu schildern. Schon acht
Tage später traf die Antwort Stalins
in Wien ein, dass er angeordnet habe,
45.000 Tonnen Getreide, 4000 Tonnen
Fleisch, 2700 Tonnen Zucker, 1000
Tonnen Salz und 25 Tonnen Kaffee-
ersatz der Wiener Regierung zuzufüh-
ren,
KINDERHIFSWERK
Das Staatsamt für soziale Verwaltung
teilt mit: Sonntag, 23. Juni, fand die
Gründung des Oesterreichischen Kin-
derhilfswerks statt. Staatssekretär
Johann Boehm sprach über die Auf-
gaben der neuen Organisation. Da?
Oesterreichische Kioderhilfswerk, in
welchem alle Parteien und Gewerk-
schaften mitarbeiten, wird die Haupt-
aufgabe darin sehen, diese Organisa-
tionen in ihren selbständigen Kinder-
hilfsaktionen zu unterstützen Zu die-
sem Zweck werden Einrichtungsgegen-
stände etc. gefunden und Kinderhei-
men zugeteilt werden müssen. Es
wird versucht werden müssen, Verbin-
dungen mit ausländischen St01.1»---,
.herzustellen, um österreichische Kin-
der ins Ausland schicken zu können
und weiters um Lebensmittel, Medika-
mente etc. zu sammeln. Dem Oesterr.
Kinderhilfswerk steht ein Beirat zur
Seite, der aus Vertretern aller demo-
kratischen Parteien, Gewerkschaften,
Wiener Gemeindeverwaltung und Ju-
gendorganisation besteht. ,
LETZTE NAZIGREUEL IN
OESTERREICH
Am 3. April, wenige Tage vor dem
Eindringen der Sowjet-E-efreier, trieb
die SS-Wache 400 politische Häftlin-
ge im Hofe der Strafanstalt Stein zu-
sammen; ihnen wurde gesagt, es wer-
de ihnen die Freilassung verkündet
werden. Dann wurden sie bis auf den
letzten Mann mit Maschinengewehr-
feuer niedergemäht. Auf die gleiche
Welse wurde am 15. Mai ein aus Wien
eingetroffener Gefangenentransport
von 44 Mann liquidiert. Es waren
meist Mitglieder der Widerstandsor-
ganisation 05, darunter drei katholi-
sche Priester. Auf dem Wiener Zen-
DAS ANDERE DEUTSCHLAND
O ~ ogsl « z *« w	FRANQUEO PAGADO CONCESION No. 3096
SS ?= OO 3 = n öj 3 «	TARIFA REDUCIDA CONCESION No. 2808
traltriedhof wurden im Laufe der na-
zistischen Besetzung Oesterreichs 6000
hingerichtete Antifaschisten beerdigt.
Diese i.unmehr authentisch festge-
stellte Ziffer zeigt, welche schweren
Opfer die österreichische Widerstands-
bewegung in ihrem Kampfe gegen den
Nazismus ertragen musste. In den
Konzentrationslagern sind viele öster-
reichische Antifaschisten zu Tode ge-
quält worden, besonders in Mauthau.
sen. In diesem Lager sind am 28. April
die noch am Leben verbliebenen
österreichischen Häftlinge auf An-
ordnung des Gauleiters Eigruber in
die Gaskammern getrieben worden.
VERSCHIEDENES
Im Landesgericht Wien wird die Vor-
untersuchung gegen die ersten 1000
Nazi Verbrecher geführt. Der Ober-
staatsanwalt Dr. Eugen Froeter er-
klärte in der Zeitung "Neues'"'Oester-
reich": Nicht Rache, sondern Gerech-
tigkeit ist unsere Aufgabe. Gegenwär-
tig stehen nur drei Staatsanwälte und
sechs Untersuchungsrichter zur Be-
handlung politischer Vergehen zur
Verfügung. Erst wenn in jedem Falle
die Untersuchung abgeschlossen ist,
wird die Anklage vor dem Volksge-
richt erhoben werden; Mindestausmass
der Strafe 10 Jahre, Höchstmass To-
desstrafe
Als zweite Zeitung, neben der Zei-
tung Neues Oesterreich, erscheint in
Wien die "Oesterreichische Zeitung"
mit dem Untertitel "Frontzeitung für
die österreichische Bevölkerung"; sie
ist das Organ der russischen Besat-
zungsarmee. In Graz erscheint die
"Neue Steirische Zeitung". In Klagen-
furt wird von der Achten Englische i
Armee die "Kärntner Zeitung", in
Innsbruck von den Amerikanern die
"Innsbrucker Nachrichten", in Linz
die "Österreichischen Nachrichten"
herausgegeben. Hoffentlich hört man
bald von österreichischen Zeitungen,
die die Oesterreicher selber heraus-
bringen.
Aus dem Lehrkörper der Wiener
Hochschulen wurden 90 Nazi-Professo-
ren ausgemistet, 34 von der Universi-
tät, 29 von der Technischen Hochschu-
le, 8 von der Welthandelsschule, 8
von der tierärztlichen Hochschule.
*
Die Wiener Volksuniversitäten, Volks,
heim und Volksbildungshaus, haben
ihren Lehrbetrieb wieder aufgenom-
men, 82 Kinos geben in Wien täglich
Vorstellungen.
*
Die von den Nazis aufgelöste Wiener
Zweigstelle der International«! Ver-
einigung für Moderne Musik ist wie-
der errichtet worden. Präsident ist Dr.
Anton Webern, der bekannte Diri-
gent der Arbeiter-Symphoniekoozerte.
Die Gesellschaft wird in der nächsten
Saison acht Konzerte veranstalten: sie
plant MusMestspip-le in Wien.
BESTELLSCHEIN
(ausschneiden und einsenden)	-
Senor JUAN CARL,	I
Tucumän 309	-
Buenos Aires	f
Der Unterzeichnete bestellt ab .........................................j
die Zeitschrift DAS ANLERE DEUTSCHLAND. Der Abonnements.	\
preis in Höhe von 4.80 Pesos und eine Spende von........Pesos für	j
den Kampffonds bitte ich, bei mir monatlich, vierteljährlich kassie,	|
ren zu lassen — liegt diesem Briefe als Scheck, Giro, Bono Postal bei.	j
Name und Vorname ..................................................................................................I
Strasse und Hausnummer ........................................................|
Ort .........................................................................j
(bitte leserlich schreiben)	f
F. D. B,
FREIE DEUTSCHE BUEHNE
teatro aleman independiente
Leitung: Paul Walter Jacob.'
Casal de Cataluna
Chacabuco 863
Sonnabend, 18. Augustust
17 und 21 Uhr
„Die 7. Mrs. Selby"
Komödie von St. ohn Ervine
Vorverkauf: Barna < MalpÜ 441,
IJ. T. 32 - 1311 und Juraiueiitn
•-»38«. V. T. 73 - 4777) — Conmo-
{>olltn < Corriente» 424, U. T. 32
24tiO) — Herzfeld (ReconqaUi«
424 CU. T. 32 - 0847.
KOPPER-, HANDTASCHEN-, SCH1JH-
Reparaturen. fachmännisch und ffut.
Wir holen aus dem Haus ab. Bruno
Zielfee, Amenafoar 1931, U. T. 7X-I245.
f" Bucher leihweise
* Neuester Katalog gratis
Leihbibliothek Coemopollte
Consent«» tii Beert forte 6.
Inenn«! Belgrano« Snere SSW
ü. T. 83 - 2400 U. T. 73 - 960*
5 Versand auch nach ausserhalb.
Elegante Handshficksachen
Arenales 1629
MARTINEZ, F. C. C. A.
Cosa Filatilica
— DB —
ROBERTO POMMER
ee*»r* y	de MtWllUM
»arm eeleset**
RBCONtlUISTA SM — Sa. Alree
U, T. S3 (Ar.) »TM

BIENENHONIG
rein, preiswert und gut
Carlos Lewin, Romang (FCSF)
I A. A. fc» A.	|
| ENRIQUE U. CORONA MARTINEZ |
I	ABOGADO	j
? LAVALLE 1268 U. T. 36 - 3853 f
i «
« »» »« «O »«
V er ein "Vorwärts

Vereinshaus:
AUSTRIA 2064
ü. T. 73 - 6058
Sport- und Landheim:
Quinta "LA PERLITA'
Qullmes — I T. 203-211
Das Zentrum
der demokratischen Deutschen