OTRA ALEMANIA AS ANDERE DEUTSCHLAND ORGANO DE LOS ALEM AN ES DEMOCRATICOS DE AMERICA DEL SUR AUS DEM 1 N H A L Ti Henry Wilde: FRANKREICH UND DEUTSCHLAND Willy Eichler: SEPARATISMUS UND NATIONALISMUS ROSA LUXEMBURG UEBER DEMOKRATIE UND DIKTATUR. Sybil Vincent: DAS EXPERIMENT VON KALGAty DISKUSSION UEBER SOZIALISMUS UND CHRISTENTUM DIE VERELENDUNG DEUTSCHLANDS KOLONISIERUNG DEUTSCHLANDS? MITTEILUNGEN DES DEUTSCH LAN D-i±ILF^WERKS 95 eespe tf» AmBTMU'taä ■iJSiiÜIm Jin^liliimirniii 'tmii il ji ITBi ■muBVi'i'iiniiiff' mh'is'nlr HinYiiT-'-11 t------ ■~~7~ B UENO S - AIRES • TUCUMAN 309 • 3 1 r R E T 1 R O - 7 2 6 4 N U M1E R O 13 5 1o. DE FEBRERO DE 1947 Deuts die E^btiofhek Frankiurt rm DAS ANDERE DEUTSCHLAND VERTRETUNGEN DES ANDEREN DEUTSCHLAND BOLIVIEN La Paz: Guillermo Karbaum, Ca- silla 323. Tarija: Manfredo Hammerschlag, Lista de Correos. Cochabamba: Los Amigos del Li- bro, Casilla 450. BRASILIEN Rio de Janeiro: Gurt, Uebel und Willi Keller, beide Casilla 4231. PARAGUAY Asunciön: Enrique und Susanna tilocx, General Uiaz 276- CHILE Osorno: Oscar Chylik, Casilla 423 URUGUAY Montevideo: LA OTRA ALEMA- NIA, Soriano 1224. MEXIKO Mexico D. F.: Walter Stein, Av. Victor Hugo 80 Colonia Anzures VENEZUELA Caracas: Libreria S.V..A., El Ee- creo. USA New York: Gretl und Herrmann Ebeling, 203 West 98 Street, N. Y. 25. SCHWEIZ Basel: Herrmann Graul, Steinen- graben 12. Zürich: Neues Deutschland, Post- fach 143, Zürich-Fraumünster. FRANKREICH Paris: S. P. D., 9, rue Victor Masse, Paris 9e. ENGLAND London: Wilhelm Sander, 33 Fern- side Avenue, Mill Hill, London NW 7. Hans Gottfurcht, 20 East Heath Roaa, flat 3, London NW3. SUEDAFRIKA Johannesburg: Futran, 45 Sacks Building, Joubert & Comissio- neers Street u. Independant Cul- tural Ass., Mappin & Webb Hou- se, Cor, Hock & Piain Streets. Bei den obengenannten Vertre- tungen des ANDEREN DEUTSCH- LAND sind sowohl Einzelexemplare als Abonnements erhältlich. Wir bitten, in allen die Administra- tion uftd den Versand betreffen- den Fragen sich zunächst mit der zuständigen Landesvertretung in Verbinudung zu setä£ . Allen An- fragen bitten wir, ein adressiertes Freikouvert beizulegen. Vorausbezahlung des Abonne- mentsbetrages ist in jedem Falle unerlässlich. Ehrung Gustav Noskes An der Trauerfeier1 für Noske nah- men teil: Der Ministerpräsident von Niedersachsen, der hessische Minister Binder, der Vertreter des Ministe- riums von Nordrhem-Westfalen, der Oberbürgermeister von Frankfurt und der zweite Voritzende der S. P. D., Erich Ollenhauer. Die einen ehren LLL (Lenin, Lieb- knecht, Luxemburg), die anderen eh- ren Gustav Noske. ANTWORTEN Polnischer Fass, Cochabamba: We- gen eines Besuchsvisums für München müssen Sie sich an das amerikani- sche Konsulat in La Paz wenden. Geben Sie die Motive für Ihre Reise an. Die Erlaubnis wird weder schnell noch leicht zu erhalten sein. Uns sind Fälle bekannt, in denen ähnliche Anträge auf Visumverteilung seit vielen Monaten laufen, ohne dass ei- ne Antwort eintrifft da das Einver- ständnis der Besatzungsbehörtisn in Deutschland erforderlich ist. Einfa- cher dürfte ein Besuchsvisum für Holland- Belgien, Frankreich, Schweiz, Italien oder ein anderes Nachbarland zu bekommen sein, in dem Sie sich mit Ihren Verwandten treffen kön- nen. Die Staatenlosenpässe, über die wir in Nr. 129, Seite 2 berichteten, wer- den von folgenden Ländern ausge- stellt: USA, Argentinien, Belgien, Chile, San Domingo, Ecuador, Frank- reich, Griechenland, Luxemburg, Hol- land, Schweden, Schweiz, Gross-Bri- tannien, Venezuela. WERBEFLUGBLATT Wir bitten alle unsere Leser, unser Werbeflugblatt zu verbreiten bezvv. an- zufordern. DAS ANDERE DEUTSCHLAND LA OTRA ALEMANIA (fundado et 7 de junio de 1937) Confirmado por Decreto No. 20.917 Ragistro nacional de la Propiedad Intelectual No. 23-0123 Autorizado por Resoiuciön no- 214 del Ministro del Interior (11 abrif 1945) Einzelnummer: 50 Cts. (6 sept. 45) del Superior Gobierno de la Naciön. Editor y Director: Dr. Auguste Siemsen. Tesorero: Juan Carl. Avisos: Guillermo Cleischer Redaccion y Administration: Tucuman 309 Buenos Aires (U. T. 317264) Jahresabonnement: 12.— Pesos argentmos (im voraus zahlbar) Geldbeträge erbitten wir aus- schliesslich per Giro oder Bono Postal oder Scheck auf Sr. Juan Carl. Tucuman 309 Bs. Aires. DAS ANDERE DEUTSCHLAND ist kein auf Profit ausgehendes Geschäftsunternehmen. Es lebt nur dank der Unterstützung sei- ner Freunde. Spendet für den Pressefonds! Erscheint am 1. und 15. eines jeden Monats. SO LEBTEN DIE FUEHRER IM TAUSEND- JAEHRIGEN REICH! Der Chefredakteur der "Neuen Zeit", Karl Brammer, hat auf Grund ge- nauer Aktenstudien, die ihm durch die alliierten Behörden aus bisher nicht veröffentlichten Dokumenten möglich wurden, ein Buch unter dem Titel "So lebten sie" verfasst, dass neue interessante Einblicke vermittelt. Karl Brammer stellt u. a. fest: HITLER Der "Führer" bezog für sich in den ersten Jahres des Regimes in seiner Eigenschaft als Staatsoberhaupt und Reichskanzler im Durchschnitt jähr- lich 25.5 Millionen, nach 1937 durch- schnittlich 27 und in den letzten Jah- ren des Regimes rund 40 Millionen pro Jahr. Für die Bauten am Obersalzberg wurden nach amtlicher Feststellung mehr als 500 Millionen ausgegeben. GOER1NG Gegenüber Hitler war er auffallend bescheiden, sagt Brammer. Nach den vorhandenen Buchungen verausgabte der Reichsmarschall für sein Frivat- haus Karinhall aus preussischen Staatsmitteln "nur" etwas über 20 Millionen. Seine Bildergalerie hingegen koste- 6r schon 59 Millionen. yn Luftfahriniiziistertum bestand ein "Sonderkonto des Chefs", auf dem merkwürdige Eintragungen zu finden waren, so z. B. "Privatspende an Liiftmarseha.il Göring von Philipp Reemtsma: 7 Millionen." *) Auf die- ses Konto zahlte das Luftfahrtmini- sterium jährlich 3 Millionen ein, von dem dann gelegentlich direkte Zah- lungen für Göring erfolgten. So er- hielt ein einziger Juwelier in Berlin von 2D41 bis 1943 aus diesem Konto über eine Million Mark. RIBBENTROP Er hat es verstanden, seine wirkli- chen Einnahmen völlig im Dunkeln zu halten. Man hat lediglich feststellen können, dass er für private Zwecke aus Staatsmitteln 12 Millionen ver- baute. GOEBBELS Vor seinem Selbstmord hat er alle Akten vernichten lassen, die Auf- schluss über seine wirklichen Bezüge geben könnten. Er übersah jedoch die Buchhaltung der deutschen Rund- funkgesellschaft, aus der ersichtlich ist, dass diese ihm allein 131 Millio- nen zahlte. 300.000 Mark jährlich brachten die Artikel im "Reich". Nach Aufzeichnungen, die nur bis 1943 reichen, besass Goebbels in die- sem Jahre bare Guthaben im Werte von 50 Millionen. V) Die Firma Reemtsma hatte die Weimarer Republik um viele Millionen RM betrogen. Der "Völkische Beobach- ter" führte deswegen einen Feldzug ge- gen "das System". Dann erschienen ganzseitige Inserate von Reemtsma iia "Völkischen Beobachter" und der Feld- zug wurde eingestellt. Später hat die Fir- ma Reemtsma ihrem Schützer Göring Millienengeschenke gemacht und erhielt dafür eine Monopolstellung, Nunmehr Ist Reemtsma verhattet worden. (Die Red.) r r 1 '/, 1 's x £ DAS ANDERE DEUTSCHLAND 3 FRANKREICH UND DEUTSCHLAND Frankreich ist seiner Deutschland- politik treu geblieben. Bis zum heuti- gein Tage ist ee kaum einen Finger- breit von der alten Linie abgewichen, die seine Politiker und seine Presse stur und starr, oft mit überheblicher Besserwisserei, oft mit dem from- men Augenaufschlag des verkannten Märtyrers, bis zum Müdewerden wie- derholen. Von allen uns reichhaltig zur Ver- fügung stehenden Quellen sollen nur zwei zitiert werden: General Oharies de Gaulle, der mit seiner unumstrit- tenen aussenpolitischen Autorität die allgemeine Richtung der französi- schen Deutschlandpolitik festgelegt hat, und der Ministerpräsident und provisorische Staatschef Bidault. Am 28. Juli 1946 führte General de Gaulle in einer Rede in Bar-le-Duc aus: "Die Lösung Frankreichs für ein aufrechtes, praktisches, menschliches Abkommen hinsichtlich Deutschlands Ist eine einfache Lösung und jeder •kennt sie. Die verschiedenen traditio- nellen germanischen Gebilde: Preussen, Sachsen, Bayern, Württem- berg, Baden, Hessen, die Pfalz, die Rheinprovinz, die nordwestlichen Pro- vinzen sich wieder erholen, verwalten und ausrichten lassen, jedes auf ei- gene Rechnung und nach seiner Art- Das gewaltige Arsenal der Ruhr un- ter internationaler Autorität stellen, nicht um die deutsche Bevölkerung dessen zu berauben, was sie braucht, sondern um zwischen ihr und den Nachbarnationen die für das Wirt- schaftsleben Aller notwendige Kohle zu verteilen. Das Saargebiet, das uns zu einem grossen Teil früher entrissen wurde, dessen Kohlengruben uns durch den Versailler Vertrag ge- geben wurden, und dessen Entwick- lung sich mit der unserer Eisenerzla- ger natürlich deckt, in die französische Wirtschaft einbeziehen. Polen eine Westgrenze zusprechen, die es füi/ die im Osten erlittenen Verluste vernünf- tig entschädigt. Endlich an der Oder von Henry Wilde und am Rhein die Grenzen für die Si- cherheit der Nachbarstaaten Deutsch- lands festlegen, die die Kosten der Besatzung tragen und Besatzungsrech- te ausüben.. Am selben Tage hielt auch Bidault eine Rede und sagte: "Frankreich hat als erster Staat sei- nen Plan zur Regelung des deutschen Problems im Interesse des Friedens vorgelegt. Es hat seine Stellungnahme aufrechterhalten und verteidigt, deren Beständigkeit durch drei sich folgen- de Regierungen hindurch beweist, dass es sich nicht um politische» son- dern um nationale Stellungen handelt. ''Die französische Regierung hat sich nicht allen Bestimmungen dessen, was man die Potsdamer "Entschei- dungen" nennt, ansch^iessen können, aber sie hat vorbehaltlos den Bestim- mungen zugestimmt, die den wesentli- chen Zwecken der Besatzung entspre- chen:* totale Entwaffnung Deutsch- lands, Zerstörung des Nazismus, ad- ministrative und politische Dezentra- lisation und Förderung des demokra- tischen Geistes. Alle Massnahmen, die die Aufbauschung einer deutschen Zentralregierung darstellen könnten, deren Jurisdiktion sich über das Gan- ze des deutschen Gebietes ersteckt, ehe selbst dieses Gebiet abgegrenzt und ehe die Organisaton Deutschlands beendet ist, erscheinen ihr als den In- teressen des Friedens und der Sicher- heit entgegengesetzt. "... Frankreich hat zugestimmt, dass das Gebiet des ehemaligen Reiches unter der Krontrolle zentraler alliier- ter Behörden — und ich sage alliier- ter Behörden vorübergehend als eine wirtschaftliche Einheit behandelt wer- de, unter Ausschliessung des Saarge- bietes dessen' Wirtschaftstätigkeit sich schon jetzt in französischem Rahmen abspielen muss." Das ist die französische Deutsch- landpolitik. Ohne höfliche diplomati- sche Floskeln, in einfacher Sprache ausgedrückt, heisst es: Deutschland, so wie es bislang bestanden hat und durch die Geschichte geworden ist soll überhaupt aufhören zu bestehen. Die "Länder" sollen politische und verwal- tungstechnischen Eigenständigkeit ha- ben. Und es- hat teinmal über 300 deut- sche Länder gegeben! Alles, was ne- gativ im Potsdamer Abkommen ist, wird gutgeheissen. Den wenigen posi- tiven Klauseln widersetzt man sich. Es sollen keine zentralen deutschen Körperschaften gebildet werden. Eine zentrale Körperschaft zur wirtschaft- lichen Ausbeutung des Landes, ja, wann es sein muss: aber die Deut- schen dürfen darin nicht vertreten sein. Das Ruhrgebiet — oft heisst es auch Rheinland-Westfalen — muss Deutschland'völlig genommen werden. Alle Grenzberichtigungen soHen auf Kosten Deutschlands o-ehen — wenn die Russen den Polen ein safti- ges Stück aus ihrem Lande heraus- schneiden, erhalten sie ein ebenso saf- tiges Stück deutschen Landes als Ent- schädigung. In einem Wort: man muss Deutschland zertrümmern! Weil es die französische Sicherheit erfordert. Die Kurzsichtigkeit und historische Rückständigkeit einer solchen Politik leuchtet jedem Niehtfranzosen ein. Wie kommt c, dann, ddns Gebil- dete und kulturell hochentwickelte Volk der Franzosen sich in ^iner Wei- se politisch festlegt, die ihm weder letzt roch später einen dauernden Vorteil bringen kann, denn dass die- • se Politik zu nichts als ?.u neuen Miss- Verständnisse^ und gefährlichen Ver- bitterungen führen wird, steht über j?de-? Zweifei fest. Frankreich läuft hinter dem Wagen der Geschichte ein- her. Wenn ich über Franzosen spreche. r'fmn weiss ich mich einer unzulässig#!« Verallge- meinerung schuld'? mach*, flfjcht alle Franzosen sind s-leich. wl» nicht alle Teutschen "nd alle Amerikaner gleich sind. Es gibt Dumme und Kluge. Oe- vTid TTJdTo PH® Franzosen halten die Deutschlandpoli- tik W" put, und rWhtisr. TT« Sozialist!« .cch° Partei Frankreichs fSF-TO) zum Beisroiel hat immer und wiederholt, letz?ich er^t auf ihrem Parteikonrrress in Paris vom 29: A^^ust, h's zum 1. pontember dieses Jahres, «ede Zer- stückelung jede Annektion und selbst die Aufteilung des Reiches in vier ge- trennte Pesatzuno-e/nren pindA,itig abgelehnt. Der "Pomilaire", das Zen- tralorfin der SFJO, hat seihst wie- derholt darauf hingewiesen, dass man den Prozess der Vereinheitlichung Deutschlands, der sich über die Jahr- hundert^ hinweeerftreckt hat. nicht unbestraft und nicht mit Aussicht auf bleibenden Erfolg unterbrechen kann. . Aber die Sozialisten sind die einzig- ste Partei Frankreichs, die solche Ftetlung einnehmen. Sie werden des- halb vnn d^n Kommunisten und an- deren Parteien oft wütend angegrlf- Como viven los dictadores En colidad de jefe del Estado y primer rninistro del gobierno de Alemania, Hitler percibia en los Ultimos anos la suma de 40 millones de marcos anuales, segün fue revelado en Berlin. Bäsan- se los cälculos en documentos hasta ahora secretos que fueron en- contrados por los aliados. Se ha podido comprobar ademas, que alrededor de 500 millones de marcos fueron pagados por el Esta- do A^eman para sufragar los gastos de construccion de la propie- dad particular de Hitler, sita en los Alpes Bavaros y conocido con el nombre de "Nido del Aguila". Sumas parecidas cobraron por conceptos diversos los demas altos jefes y ministros del nazismo, lo que permite afirmar que el nazismo ha gastado solamente en conceptos de sueldos la suma de 700.000 millones de marcos, co- rrespondiendo e1 marco de pre-guerra mäs o menos al valor de un peso argentino. 4 DAS ANDERF DEUTSCHEAND fen. Und da die SFIO mit den noto- risch antideutschen Kommunisten und der Bldault-Partel der Volksre- publikaner (MRP) in einer Regierung zusammensitzt, hat sie ihre bessere Einsicht nie wirklich energisch ver- treten. Mit solchen Einschränkungen und mit dem berühmtem Körnchen Salz spreche ich also von "den" Franzosen- Denn es gibt natürlich etwas, das man — durch geschichtliches und geogra- phisches Schicksal bedingt — als Vo~.scharakter bezeichnen kann. Und wenn in irgendeiner Sache Einigkeit in Frankreich herrscht, so jetzt in be- zug auf Deutschland. Le boche payfera, sagte man nach dem letzten Kriege. II saut 6tre dur, sagt man heute. All das kann man sich Völker- und toassenpsychologiscti natürlich erklä- re«. Die Franzosen waren einmal die Gro- sse Nation Europas- Der Traum und die Erinnerung von der Grande Nation epukt noch immer in ihren Köpfen. Mit Erbitterung und Angst sahen sie jenseits des Rheines plötzlich ein Ge- bilde sich entwickeln, das ihnen wirt- schaftlich und in seiner Bevölkerung zahlenmässig überlegen war. Der deut- sche Imperialismus war aggressiv. Dreimal in weniger als 70 Jahren ha- ben deutsche Truppen auf französi- schem Boden gestanden- Die Angst vor den Deutschen ist darum begreif- lich und verbindet sich mit dem Stolz auf eine grosse Geschichte (die, ne- benbei gesagt, auch nicht immer sehr friedliebend war) zu einem, allen an- deren Völkern fremden Gemisch angst- vollen Ressentiments, verbitterten Hasses und unsicherer Ueberwertig- keitskomplexe. Schwache sind oft die tyrannischsten Menschen. Frankreich fühlt sich schwach. Darum hasst es Deutschland, das einst stärker war und vielleicht wieder stark werden könnte. Das darf nicht sein. Darum verlangt die französische ''Sicherheit", dass man Deutschland drakonisch be- handelt und womöglich völlig aus- löscht- Dag Ist sicherlich weder eine kluge noch eine weltschauende Konzeption. Denn ein siebenjähriges Kind kann sie folgende logische Ueberlegung an- stellen : wenn der eine Starke beseitigt ist, wer garantiert, dass nicht ein an- derer Starker an dessen Stelle tritt und sich die Position des Schwachen folgerichtig gar nicht ändert. Das ist unbestreitbar und zeigt zugleich die ganze Nichtigkeit und Aussichtslosig- keit des traditionellen Sicherheitsden- kens. {Darum sollte gerade Frankreich sich dieser Nichtigkeit bewusst gewor- den sein. Nach dem ersten Weltkriege wurde in Frankreich unter ungeheu- rem Aufwand an Geld und Material die M'aginotlinie gebaut. Hinter dieser Maginotlinie glaubte sich das französi- sche Volk in Sicherheit wiegen zu kön- nen. Es enwickelte sich die Maginot- Mentalität- Dann aber wurde die M'a- ginotlinie in wenigen Tagen über- rannt, und in vierzig; Tagen war der westlich« Feldzug de» Frühjahrs 1840 beendet. Die "S6curit6" hatte versagt. Doch das politische und soziale Denken der Menschen spricht oft al- müsste, sondern dass man nicht ge- nug "Securit6" gehabt habe. Darum muss die Grenze Frankreichs bis an den Rhein vorgeschoben werden- Dar- um sprechen die Franzose^ offen aus, dass sie "strategische Grenzberichti- gungen'* selbst ihrer Besatzungszone wollen. Darum spricht man von einöm zwischen Frankreich und dem Herzen Deutschlands zu errichtenden Nie- mandsland auf der linken Seite des Rheines. Darum soll die Saar zu Frankreich und das Ruhrgebiet unter Internationale Kontrolle mit Aus- schluss der Deutschen. Darum soll Deutschland wieder so zerstückelt werden, wie es vor mehr als hundert Jahren war. Das ist ein konservatives und un- konstruktives Denken. Die M'aginotli- nie war kein Schutz- Die deutschen Armeen konnten die Anglo-Amerika- ner nicht daran hindern, den Aermfel- kanal mit ungeheuren Mengen an Menschen und Material zu überqueren. Der Rhein war schon gar kein Hin- dernis, obwohl alle Brücken in die Luft gesprengt wurden. Wie jeder weiss, gibt es heute Flugzeuge, die die Supersestunge.; zu Zwergen machen und mit grossen Bombenlasten Non- stopflüge Amerika-Europa-Amerika unternehmen können. Raketenbomben werden bald um den ganzen Erdball herumgeschossen werden können- Und es gibt die Atombombe... Die Franzosen aber sprechen mit dem Brusttöne der Ueberzeugung und len Gesetzen der Logik Hohn, ist von überkommenen Vorstellungen abhän- gig. Die Lehre, die die Franzosen aus ihren kürzlichen, tragischen Erfahrun- gen zogen, war nicht, dass man etwas anderes, etwas Positiveres an die Stel- le des Maginot-Linie-Denkens setzen sogar guten Glaubens davon, dass es die Sicherheit Frankreichs gefährde, wenn man den Deutschen gestatten würde, die im Potsdamer Abkommen vorgesehenen zentralen Verwaltungs- stellen für Wirtschaft und Verkehr zu bilden! Das kann man verstehen, wie man eine Krankheit verstehet! Kann. Man kann es aber nicht gutheissen, weil mit diesem Denken und mit dieser Politik neues Unrecht geschaffen wird und bestehendes Elend — und das Elend ist furchtbar in der französi- schen Zone — unnötig und über jede Gebühr hinaus verlängert wird- Man muss den Franzosen sagen, dass die- ses zertrümmerte Deutschland für vie- le Generationen keinen Krieg mehr führen kann. Die Entrümpelung einer ßtadt wie Frankfurt am Main wird allein zehn Jahre in Anspruch neh- men! Vergangenes Unrecht rechtfer- tigt kein neues Unrecht. Neues Elend kann vergangene Leiden nicht heilen. ES Ist bezeichnend für die französi- sche' Politik gegenüber Deutschland, wenn General König, der Oberbe- fehlshaber Frankreichs in Deutsch- land In einem Interview mit der Pari- ser Tageszeitung "Libre-Soir" (13. Sep- tember 1946) als unverkennbare Ant- wort auf die Rede -Byrnes' in Stutt- gart, der er ostensiv ferngeblieben war, sagt: "Trotz- aller Freiheiten sucht Deutschland leider noch heute jeman- den, der es von seiner eigenen Ver- antwortung loslösen , kann. Es will jemanden, der ihm befiehlt; es sucht einen Führer." Oder wenn er im Wi- derspruch i zur wirklichen Volksstim- mung und in ungerechter Verallgemei- nerung .von der "Hoffnung auf einen Revanche -Krieg, die sich mehr und mehr unter den Deutschen breitmacht", spricht. Er weiss,' dass nur Toren und Verbrecher auf einen neuen Krieg ihre wahnsinnigen Hoffnungen setzen. Und wenn die Dsutschen praktische Beweise liefern, dass sie sich nach keinem Führer sehnen, dass sie vor die Wahl gestellt, Demokratie, Frie- den und Selbstverantwortung wählen, wie sich das in den Berliner Wahlen vom 20. Oktober kund tat, dann fin- den sich grosse französische Zeitun- gen Wie "Aube", die davon sprechen, dass der deutsche Nationalismus wie- der sein Haupt erhebt, oder wie "Combat', die in dem Sieg der So- zialdemokraten einen Versuch der Deutschen sehen, sich von den Folgen der Niederlage zu drücken. Hätten die Berliner anders gewählt, sie wä- ren immer die bösen Prügelknaben geblieben. Solcherart ist der Geist .in dem sich Frankreich heute _ seine europäische Vormachtsstellung und weltpolitische Bedeutung erringen möchte. Es ist ein negativer, niederreissender Geist. Bislang hat er noch niemandem ge-. nützt. Er hat die Amerikaner und Engländer viel Geld gekostet. Er hat die Russen nicht bestechen können. Die westlichen Alliierten und auch die Russen werden eines Tages über die Einwände der Franzosen hinweg zur Tagesordnung übergehen und Deutschland wieder eine wirtschaftli- che und letzlich auch eine politische Chance geben. Sie werden das tun, nitht aus Eigennutz, sondern weil sie dtin Geboten logischer Notwendigkei- ten, die der ganzen Situation in Deutschland innewohnen, gehorchen müssen. Aengstlich registriert Frank- reich . heute shon alle Aeusserungen Byrnes, Bevins und Molotows über Deutschland. Frankreichs Position ist zum Scheitern verurteilt. Es läuft, wie gesagt, hinter dem Wagen der geschichtlichen Entwicklung her. Ei- nes Tagess wird es einsteigen müssen, wenn es nicht den. Anschluss verlie- ren will. Dass die Franzosen das nicht begreifen, scheint oft unbegreiflich. Die Frage ist nur wieviel weitere schädliche Verzögerungen sie noch be- werkstelligen können. Und Frankreich könnte, würde es seinen Blick kühn in die Zukunft richten und die Entwicklung nur ein bisschen voraussehen, eine wirklich europäische, eine bedeutende Weltmis- sion erfüllen. DA • ANDIRt B1UT$CH(AND 3 SEPARATISMUS UND N ATIONALISMUS Diese von Eichler im nordwest. deutschen Rundfunk gehaltene Rede gewinnt angesichts der jüng- sten Saarpoiitik d er Franzosen besonderes Interesse- Die furchtbare politische, wirt. dchaztliche und moralische Lag« Deutschlands hat zum Aufkommen ei- ner Anzahl separatistischer Bewegun- gen geführt. Einige Leute wünschen ein Rheinland als unabhängigen Staat oder angegliedert an Prankreich; sogar die Bildung einer Dommionpartei, die den Anschluss an das britische Impe- rium erstrebt, wurde kürzlich in einer Pressenotiz erwähnt. Aeihnliche Be- strebungen werden aus Hannover be- richtet; hier wind eine Erneuerung der Verbindung mit Grossbritanien befür- wortet. Es gibt separatistische Bewe- gungen ander Saar, die entweder die Einverleibung in Frankreich oder nur eine starke wirtschaftliche Union an- streben. Die bayrischen Separatisten wollen, dass Deutschland in einen lo- sen Bund von Provinzen und Staaten zerschlagen wird. Schliesslich begehren eine Anaahl Deutscher in Schleswig- Holstein die dänische Staatsangehörig- keit. Ein wohlbekanntes separatistisches Blatt der französischen Zone, djer Rhei- nische Merkur, veröffentlichte .kürzlich einen Artikel unter der Ueberschrift "Der Verzicht auf den Rhein ". Er be- zog sich auf die von der Christlich-De- mokratischen Partei im Rheinland er- hobene Forderung eines lebensfähigen Rheinischen Staates innerhalb eines deutschen Bundes mit einer westlichen Stadt wie z.B. Prankfurt als Haupt- stadt. Noch bedeutungsvoller war eine andere Feststellung in dem selben Blatt, die darauf hinwiess, dass die So- zialdemokratische Partei in • Bayern, Baden und Württemberg eine bundes- staatliche Lösung begünstigt hätte, vermutlich würde sie die gleiche Hal- tung im Rheinland einnehmen. Wir wissen nicht, ob diese deich- eetzung von zwei völlig verschiedenen Ansichten absichtlich vorgenommen wurde oder nicht. Bs ist jedoch eine Titsache, dass separatistische Bestre- bungen nichts zu tun haben mit der Forderung eines deutschen Staaten- bundes. Die'Ansicht, dass Deutschland weniger zentralisiert -werden sollte, ist .ein. alter Gedanke, der von vielen Leu- ten verschiedener politischer Ansicht geteilt wird. Das Schlagwort ''Los von Berlin" ist nicht nur auf ^reaktionäre .Motive zurückzuführen. Die Üebertra- . gung weiter administrativer und poli- tischer Punktionen an die einzelnen Staaten, -Provinzen undGemeinden hätte im grossem Masse beitragen kön- nen zur Erziehung unabhängiger und seibstlhewusster deutscher Staatsbür- ger. Der Separatismus erhebt gewöhnlich sein Haupt, wenn die Verhältnisse be- sonders sohlecht sind, und wenn er ei- ne einfache Lösung zu bieten scheint- .Die Leute sprechen ohne.Scheu davon, vou Willi Eichler sich einem anderen Staat anzuschlies- sen, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern. Die Saarseparatisten z. B. argumentieren, dass die Schwerindu- strie der Saar zum Teil zerstört würde, wenn sie deutsch bliebe, wohingegen sie gerettet werden könnte, wenn die Saar französisch wurde. Der Rheinische Merkur deutet an, dass die Sozialdemokraten in eine se- paratistische Politik einwilligen könn- ten. Es besteht keinerlei Berechtigung für eine solche Annahme. Die Konfe- renz in Hannover vom Mai, die Dele- gierte aus allen 'Peilen Westdeutsch- lands umfasste, erklärte ganz energisch, dass sie gegen alle Formen des Separa- tismus sei. Die bayrischen Delegierten erliessen eine besondere Erklärung dahingehend, dass sie den gegenwär- tigen besonderen bayrischen Staat als eine vorübergehende Entwickelung aus den Bestimmungen der Militärregie- rung heraus ansähen und nicht als den Vorläufer eines unabhängigen Bayerns. Die Parteikonferenz verwarf den Se- paratismus nicht aus nationalistischen Gründen. Sie bestand nicht darauf, dass das, was einmal deutsch gewesen ist, immer so bleiben müsse. Die Sozial- demokraten verstehen vollständig den Wunsch der Nachbarn Deutschlands nach Sicherheit. Ais deutsche Sozia- listen lehnen wir nicht den Wunsch Frankreichs, Russlands oder irgend ei- ner anderen Macht nach Sicherheit als übertrieben oder gar hysterisch ab. Wir erkennen, dass die Zerschlagung Deutschlands oft als der einzige Schutz Zungen an der Saar, die entweder die ror Teutonic-us" angesehen wird. Aber selbst wenn wir völlig verstehen, wa- rum sich einige Nationen durch ein einheitliches Deutschland bedroht füh- len, so können wir doch diejenigen Deutschen nicht verstehen, / sondern wir verurteilen sie sogar sehr e ner- gisch, die versuchen die Lage auszu- nutzen, um besondere Vorteile für sich oder für ihren Landesteil zu erlangen getreu dem Wort "Jeder für sich, und den letzten mag sich der Teufel holen.'1* Deutschland stürzte die ganze Welt in einer« Krieg und hat ihn verlören. Diejenigen, die zu Deutschland gehör- ten, als das Schicksal es begünstigte, als es vorteilhaft war, ein Deutscher Zu sein, sollten aus rechtlichen und moralischen Gründen bereit sein,ihren Teil als Verantwortung für das Land zu übernehmen, das jetzt in Trümmern liegt. Sie sollten diese Verantwortung .tragen, einerlei, welchen Grad an Schuld sie persönlich. haben. Wenn sie das nicht tun, dann geben sie die letzte Gelegenheit auf, die dem deut- schen Volk geblieben ist, um die Ach- tung der Welt und seine eigene Selbst- achtung durch aussergewöhnlich e An- strengungen für den Wiederaufbau Deutschlands und durch eine gewisse Wiedergutmachung der Missetaten des Dritten Reichs wiederzugewinnen. Das sind die Gründe, warum die Sozialde- mokratische Partei den Separatismus verwirft. Die nationale Ehre verlangt, dass Gerechtigkeit sowohl innerhalb des Volkes als auch in seinen Bege- hungen zn anderen herrsche. Nur in diesem Sinn ist die Partei an Deutsch- lands Ehre interessiert. Wenn wir den Separatismus ableh- nen, welche Sicherheit wollen wir dann unsern Nachbarn geben und wie dem deutschen Volk helfen, aus sei- nem jetztigen Elend hrauszukommen? Das zweite Problem wird nur gelöst werden, wenn jeder am allgemeinen Missgeschick teilhat; die Lasten rtuis- s® gleichmässig verteilt werden ohne Rücksicht auf die frühere soziale Stel- lung und das Vermögen des Einzelnen. Keinem soll erlaubt werden weiter eine verhältnismässig sorglose Existenz zu führen, während die Uebrigen hun- gern. Wenn keine sozialistische Lösung für die augenblickliche soziale und po- litische Krisis geschaffen wird, wird Deutschland untergehen. Wir bitten alle die in anderen Län- dern wirklich das Wiederaufkommen des deutschen aggressiven Geistes fürchten, und die deshalb die deut- schen Separatisten unterstützen, sich klarzumachen, dass nur ein sozialisti- sches Deutschland, das die Grundsät- ze der Freiheit und der Gleichheit in seine "Verfassung aufgenommen hat und sie in der Innen, und Aussenpoli- tik anwendet, den Frieden halten wird, nicht aus Angst vor der Stärke seiner Gegner, sondern aus Achtung vor ihren Rechten- Wir wagen es zu hoffen, dass nicht nur Sozialisten, sondern alle die am Frieden interessiert sind, erkennen werden, dass die Unterstützung sepa- ratistischer Bewegungen nur neue For- men von Nationalismus und Egoismus ermutigt. Auf Grund ihrer eigenen na- tionalen Interessen schon allein kön- nen die Vertreter des Gedankens, dasa nur ein zerstückeltes Deutschland ein gutes Deutschland sein kann, davoft überzeugt werden, dass ihre Politik un- gesund ist. Die Zersplitterung Deutschlands bedeutet tatsächlich die Zersplitterung Europas. Es gibt, keinen Ausweg aus dem Dilemma und am wfc> nlgsten mit Hilfe einer separatisti- schen Politik, unter welcher Tarnung auch immer sie auftreten mag. Staatswert und IndividuaJwert Vaterland! Deine Bürger sind dem Staat um kein Haar mehr wert als sich selbst, und jeder Glaube an den Staatswert von Bürgern, die keinen Indiidualwert für sich selbst haben, ist ein Traum avus dem du früher oder später mit Entsetzen erwachen musst. Jedes Land und besonders jedes freie Land steht nur durch den sittlichen, geistigen und bürgerlichen Wert Sei- ner Indiiduen gesellschaftlich gut. (Pestalozzi) s DAS ANDERE DEUTSCHLAND über Demokratie und Diktatur Rosa Luxemburg Am 15. Januar' jährte sich zum 28. Mal der Tag, an dem Rosa Lu- xemburg vom deutschen Milita- rismus ermordet wurde. Mit die- sem straflos gebliebenen Mord an der überragenden geistigen Füh- rer in des revolutionären deutschen Proletariats war symbolisch das Schicksal der deutschen Revolu- tion besiegelt. "Sie töten den Geist nicht", haben wir uns damals zum Trost gesagt. Alier in unseren Zei- ten der allgemeinen Begriffsver- wirrung wird die Stimme dieser grossen sozialistischen Denkerin und Kämpferin kaum noch gehört weil sie nicht in die Klichees passt. Und doch wäre die Lektüre ihrer Schriften und eine kritische Aus- einandersetzung mit innen, nicht dagegen eine einfache Uebernäh- me ihrer meisterhaft klaren, aber keineswegs unfehlbaren Auffas- sungen sehr nützlich. Wir bringen im Folgenden einen kleinen Abschnitt aus ihrer Herbst 1918 im Geiängnis geschriebenen Auseinandersetzungen mit der Ok- toberrevolution. "... Wenn das Proletariat die Macht ergriffen hat, känn es nie- mals, dem guten Rat Kautskys fol- gend, unter dem Vorwand, dass das Land nicht reif sei, auf die sozialisti- sche Umgestaltung verzichten und sich lediglich der Demokratie wid- men, ohne die Internationale und die Revolution zu verraten. Es hat viel- mehr die Pflicht, sofort energisch, unerbittlich und rücksichtlos soziali- stische Massnahmen durchzuführen und die Diktatur auszuüben, aber eine Diktatur' der Klasse, nicht ei- ner Partei oder einer Klique; Dikta- tur der Klasse, das bedeutet: in der breitesten Oeffentlichkeit, unter der aktivsten Teilnahme der Volksmas- sen, in einer unbegrenzten Demo- kratie. In unserer Eigenschaft als Mar- xisten, waren wir niemals Götzendie- ner der formellen Demokratie, schreibt Trotzky. Ganz gewiss sind wir nie Götzendiener der formellen Demokratie gewesen. Wir sind eben- sowenig jemals "Götzendiener" des Sozialismus oder Marxismus gewe- sen. Folgt daraus das Recht, den So- zialismus oder Marxismus in der Art von Cunow-Lensch-Parvus in die Rumpelkammer zu verweisen, wenn er uns unbequem wird? Trotzky und Lenin sind die lebendige Verneinung dieser Frage. Wir waren nie Göt- zendiener der formellen Demokratie, das bedeutet nur eins: Wir haben immer unterschieden zwischen der sozialen Grundlage und der politi- schen Form der bürgerlichen Demo- kratie; wir haben immer den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Knechtschaft aufgezeigt, der sich unter der süssen Hülle der formalen Gleichheit und Freiheit verbirgt, aber nicht um diese zu verwerfen, sondern um die Arbeiterklasse auf- zurufen, sich nicht mit der Hülle zu begnügen, sondern die politische Macht zu erobern, um ihr einen neuen sozialen Inhalt zu geben. Es ist di-i geschichtliche Aufgabe des Proleta- riats nach der Machteroberung, an die Stelle der bürgerlichen Demokra- tie eine sozialistische Demokra- tie zu setzen, nicht aber jede De-' mckratie zu> vernichten. Aber die so- zialistisch e Demokratie beginnt nicht erst im Lande der Verheissung, nach- dem die Grundlagen der sozialisti- schen Wirtschaft geschaffen sind, als eine Art Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das bis dahin treu die Handvoll sozialistischer Diktato- ren gestützt hat; die sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Werk der Zerstörung der Klassen- herrschaft und des Aufbaus des So- zialismus. Sie beginnt mit dem Mo- ment der Machteroberuung durch die sozialistische Partei, sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proleta- riats. Jawohl: Diktatur! Aber diese Dik- tatur besteht in der Anwendung der Demokratie, nicht in ihrer Beseiti- gung, in energischen und entschlos- senen Massnahmen gegen die Privi- legien und die ökonomischen Grund- lagen der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche die sozialistische Um- gestaltung unmöglich ist. Aber diese Diktatur muss das Werk der Klasse sein und nicht einer kleinen Min- derheit, die im Namen der Klasse herrscht. Mit anderen Worten, sie muss erwachsen aus der aktiven Teilnahme der Massen, unter ihrem unmittelbaren Einfluss bleiben, der Kontrolle der Oeffentlichkeit. unter- stehen, ein Produkt der fortschreiten- den politischen Erziehung der Mas- sen sein. Ganz gewiss wären die Bolsclie- wisten so verfahren, wenn sie nicht unter dem furchtbaren Druck des Weltkrieges der deutschen Besetzung und all der ungeheuerlichen Schwie- rigkeiten gestanden hätten, die sich- auftürmten, und die jede sozialisti- sche Politik verfälschen müssen, auch eine die von den besten Absichten den grossartigsten Grundsätzen er- füllt ist... Alles, was in Russland geschieht ist erklärbar: e$ ist eine zwangsläu- fige Kette von Ursachen und Wir- kungen, deren Ausgangspunkte das Versagen des deutschen Proletariats und die Besetzung Russlands durch den deutschen Imperialismus sind. Man würde Lenin und seinen Mitar- beitern etwas Uebermenschliches zu- muten, wenn man von ihnen, und noch dazu unter solchen Umständen, wie durch Zauberei die schönste der Demokratien, die vorbildliche prole- tarische Diktatur und eine blühende' sozialistische Gesellschaft fordern wurde. Durch ihre entschlossene re- volutionäre Haltung, durch ihre vor- bildliche Aktionskraft und durch ihre unverletzbare Treue zum internatio- nalen Sozialismus, haben sie fürwahr geleistet, was unCar den schwierigen Umständen geleistet werden konnte. Die Gefahr beginnt da, wo sie, aus der Notwendigkeit eine Tugend ma- chend, die Taktik, zu der sie durch die Umstände gezwungen wurden, zu ei- ner Theorie kristallisieren und sie dem internationalen Proletariat als das Vorbild sozialistischer Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen..." DAS EXPERIMENT VON KALGAN Kalgan, die Hauptstatdt des kom- munistischen Randgebiets, ist von den Truppen Tschan Kai Scheks eingenommen worden. Diese entlegene Stadt befindet sich etwa 450 km nördlich von Peking und ist als Zugangstor zur Mongolei von Wichtigkeit. Ihr Fall bedeutet, dass ein interessantes Experiment vorläufig zu Ende ist. Kalgan war das erste Industriezen- trum Chinas, das den Kommunisten in die Hände fiel. Bevor sie Kalgan besetzten, zur Zeit als sich die Japa- ner ergaben, war ihr Gebiet aus- schliesslich agrarisch. Später haben sie andere industrielle Gebiete ge- Von Sybil Vincent wonnen, aber unter sehr veränderten Bedingungen. Ich kam vor einigen Monaten mit dem Zug von Peking nach Kalgan. Nach vierstündiger Fahrt, während, der man so zusammengepfercht war, dass man kaum atmen konnte, er- reichten wir Ching Lung-Chiao, die letzte Station vor der 35 Km langen Unterbrechung der Bahnlinie zwischen Kuomintang- und kommunistischem Gebiet. Auf der Station Hui Lai am anderen Ende der unterbrochenen Li- nie gab es nicht wie in Peking einen regelrechten Kampf um einen Platte, vielmehr bildeten die Passagiere hier eine geordnete "Schlange". Es war die erste "Schlange"', die ich jemals in China gesehen habe. Es war ein be- merkenswerter Erfolg der Kommuni- sten, die Chinesen, das individuali- stischste Volk der Welt, davon, über- zeugt zu haben, dass eine "Schlange" zu bilden besser ist, als den üblichen verrücken Ansturm zu machen, bei dem oft Personen verletzt werden. AIs ich auf den Zug wartete, trat überraschenderweise jemand zu mir und redete mich auf englisch an. Es war ein Mann mittleren Alters, der Kellner im Wagon-Lits-Hotel in Pe- king gewesen war, aber jetzt bei der DAS ÄNDERE DEUTSCHLAND 7. koixununistitstchen Eisenbahn arbeite- te. Wir reisten zusammen, und mit sei- ner Hilfe als Dolmetscher verging die vierstündige Reise nacn Kaigan schnell. Jeder in dem überfüllten Ge- pacKwagi-n hatte mar etwas zu sagen. Alle waren glühende Anhänger des kommunistischen Regimes. Sie alle — j eine gemischte Gesellschaft von klei- nen Ladenbesitzern, Bauern und Fa- brikarbeitern — stimmten darin über- ein, dass es ihnen unter den Kommu- nisten besser ginge und sie viel besser behandelt würden als je zuvor. Aber natürlich ist nichts vollkommen. Und sie waren ebenso deutlich in ihrer Kritik. Ein junger Mann war . in der Konienlörde'rung, deren Er- trag unter den Japanern nur 70 Ton- nen' täglich betrug, aber im April 1846 auf '40ü Tonnen täglich gestiegen war. Viele Privatunternehmer arbeiteten eng mit den Staatsbetrieben zusam- men, nachdem sie von den Kommu- nisten durch Anleihen, ermutigt wa- ren. Die Privatunternehmer bezahlten gewöhnlich weniger Lohn bei schlech- teren Bedingungen. Es war seltsam, dass gerade der Vorsitzende der Ge- werkschaften des Grenzbetoirka das be- günstigte. Ueber 75 ojo der Industrie- arbeiter, deren begeisterter Führer er war, waren Mitglieder der verschiede- nen Gewerkschaften. Azer er war mehr dafür, die Unternehmer davon zu überzeugen, dass bessere Arbeitsbe- dingungen geschaffen werden müssten, als solche durch Streiks zu erreichen. Er blieb dabei, dass ''freie Entwick- lung der Privatindustrie das Tempo der Industrialisierung steigern" würde. Die Kommunisten waren mit ver- schiedenen Plänen zur Verbesserung der Landwirtschaft beschäftigt. Die Grundbesitzer wurden nicht gezwun- gen, die größtmöglichen Ernten auf- zubringen, sie wurden nur durch hohe Preise dazu angeregt. Sie wurden nicht in die Bewässerungskooperative hin- eingezwungen oder genötigt, den Ar- beitsaustausch mitzumachen, nach dem der Landmann, der keine Zugtie- re besass, diese sich ven einem ande- ren lieh, den er dafür durch Arbeit bezahlte. Aber wenn sie erst einmal begriffen hatten, worum es sich han- delte, begrüssten die meisten die Neuerungen. Jetzt ist das Experiment zu Ende. Die von Nordamerika ausgerüsteten Truppen Tschiang-kai-Schecks haben dem Problem ein Ende gemacht, ob sich in Kaigan eine Utopie verwirkli- chen liess. (The Statesmann and Nation 26. X 46 DISKUSSION UEBER SOZIALISMUS UND CHRISTENTUM Kürzlich haben sowohl die unter kommunistischem Einfluss stehende S. ED. in der russischen Zone Deutsch- land wie die SPD, in den westlichen besetzten Zonen erklärt, dass sie nicht antireligiös seien, und dass sie die Al- ternative: "Christentum oder Mar- xismus", wie es Jakob Kaiser, der Vorsitzende der christlich-demokrati- schen Vereinigung, in seiner letzten Rede formuliert hat, nicht annähmen. Aber in der Haltung der beiden Gruppen gibt es merkliche Unterschie- de. Die S.E.D. leugnet-, das Marxismus und Christentum unvereinbar seien, währfnd die SPD. leugnet, dass das Christentum etwas anderes sej als ein miMer Marxismus. In einer langen Erklärung, "S.E.D. und Christentum", die in "Neues Deutschland" veröffentlicht wurde utt