2. Jahrgang NEW YORK, DEN 1. OKTOBER 1936 No. 11 Umkehr in zwölfter Stunde. Der überaus starke Widerhall, den der in der letzten Nummer des "Aufbau" erschie- nene Artikel "Die Völkerbundsaktion des American Jewish Committee" ausgelöst hat, veranlasst mich, das in jenem Aufsatz be- rührte Problem hier in einem weiteren Rahmen zu erörtern. Wie sich die Dinge nachgerade entwickelt haben, drängt sich dem Verantwortungsbewussten die Frage auf, ob die auf amerikanischem Boden bis- her geleistete Arbeit zur Abwehr des Nazis- mus sich in den durch die Sache gewiesenen Bahnen bewegt hat. Ich zögere keinen Augenblick, sie mit einem glatten Nein zu beantworten. Wenn man mir entgegen hält, man müsse erst einmal über eine gründ- liche Kenntnis des amerikanischen Lebens verfügen, um über Wert oder Unwert des bisherigen Abwehrkampfes urteilen zu dür- fen, so erwidere ich, dass mich die Zahl meiner amerikanischen Jahre hinlänglich legitimiert und dass meine zahlreichen Ge- sinnungsfreunde, die noch nicht so lange wie ich die Luft der Vereinigten Staaten atmen, vor den inländischen "Experten" zum mindesten eines voraus haben: eine auf lange Erfahrung gegründete Kenntnis des gemeinsamen Feindes — und auf diese Kenntnis kommt es in erster Linie an! Beweise für die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen Führung der amerikani- schen Judenheit im Abwehrkampf liegen in Hülle und Fülle vor. Wir beschränken uns an dieser Stelle auf den Hinweis, dass sich die Prominenten der jüdischen Gross- organisationen in U.S.A. nach der offiziellen Errichtung des Dritten Reiches in jedem Frühjahr in Prognosen überboten, die ein Ende des nationalsozialistischen Regimes jeweils für den folgenden Winter verhies- sen, und dass es vielfach die gleichen Leute waren, die die bedauerliche stetige Ver- schärfung der Verhältnisse in Palästina mit bombastischen Drohungen begleiten zu sollen glaubten. Welch eine phantastische Verkennung der harten Wirklichkeit liegt doch darin, dass einer der führenden Män- ner in einem Rundfunkvortrag im April Ein Mahnwort an Amerikas Juden. Von Dr. HANS MARTIN MEYER. dieses Jahres als Vergeltungsmassnahme für die Ermordung jüdischer Siedler in Palästina die Verpflanzung von je tausend Neueinwanderern für jedes jüdische Todes- opfer forderte! Auch darf in diesem Zu- sammenhange daran erinnert werden, mit welcher Ueberhebung aus amerikanisch- jüdischen Kreisen heraus das jahrzehnte- lange Bemühen der deutsch-jüdischen Ab- wehrorganisation behandelt wurde, die schliesslich der Hakenkreuz-Sturmflut zum Opfer fiel. Wäre bei den Schichten, auf die unsere Bemerkung zielt, etwas mehr Verständnis für die Exaktheit deutscher Abwehrmethoden lebendig, dann hätte es— wir greifen bloss dieses eine Beispiel her- aus — nicht vorkommen können, dass ein sonst sehr verdienstvolles, massgebendes Organ der amerikanischen Judenheit Ende August 1936 der antisemitischen Hetzlüge vom sogenannten Damaszener Ritualmord durch komentarlose Weiterleitung an die Tagespresse allerbreiteste Resonanz in der amerikanischen Oeffentlichkeit verschaffte. Wie leicht wäre es doch gewesen, ein paar Worte anzufügen, die die längst festge- stellte historische Wahrheit unterstrichen, dass nämlich die in der Meldung erwähn- ten "jüdischen Geständnisse" durch unbe- schreibliche Folterqualen erpresst waren! Die überwiegende Mehrheit der amerika- nischen Juden ahnt nicht einmal, was die Drohung des Nazismus bedeutet. Das wird durch das in seiner Naivität beinahe er- heiternde kürzliche Eingeständnis eines be- kannten, sonst durchaus ernst zu nehmen- den Philosophen und Soziologen bestätigt: man habe es bei dem Nazismus zweifellos mit einer "ganz anderen Art von Anti- semitismus als dem der Vorkriegsaera" zu tun. Zu dieser verblüffenden Erkenntnis hat man sich allerdings erst nach dreiein- halb Jahren Hitlerdiktatur durchgerungen! Wenn man sich in der geistigen Oberschicht des jüdischen Nordamerika schon nicht ein- mal die Mühe genommen hatte, die pro- grammatischen Aeusserungen des National- sozialismus aus den zwanziger Jahren zu studieren, dann hätte man doch wenigstens das Material auswerten sollen, das bereits die Anfänge des Dritten Reiches so üppig lieferten. (An Mahnungen und Beschwö- rungen von seiten deutscher Juden hat es wahrhaftig nicht gefehlt, aber sie fanden leider Gottes taube Ohren.) Jedenfalls ist die Kontinuität im Blut- rünstigen nirgends unterbrochen worden. Der Nürnberger Unhold, aus dem der Geist des Neuen Deutschland wohl am deutlich- sten redet, Hitlers Intimus Julius Streicher, ist in altbefahrenen Nazigeleisen geblieben, als er auf dem Nürnberger "Parteitag der Ehre" in einer Sonderkonferenz mit anti- semitischen Schmierfinken aus aller Herren Länder die Abschlachtung sämtlicher Juden als die einzig mögliche Lösung des Juden- problems empfahl! Und obwohl der Nationalsozialismus schon seit geraumer Zeit darauf verzichtet, seine Absichten auf dem Gebiete der Judenpolitik zu tarnen, finden sich immer wieder gebil- dete Vertreter des Angelsachsentums, die sich mehr oder minder emphatisch für das Reich des Hakenkreuzes einsetzen. So hat erst vor einigen Wochen — unter dem er- hebenden Eindruck der Potemkinschen Dör- fer, die man bei der Berliner Olympiade aufgebaut hatte—der Reverend Dr. Frank N. D. Buchman die faschistische Diktatur als eine "gottgewollte Einrichtung" geprie- sen, ganz zu schweigen von dem Sehr Ehrenwerten Herrn David Lloyd George, der sich noch Jahre nach seinen ministe- riellen Weltkriegsleistungen vor Feind- schaft gegen Deutschland überschlug und jetzt unter den Ehrengästen des Nürnber- ger Parteitags prangte. Doch obwohl bei- nahe jeder Tag irgendwo einen Fortschritt der nationalsozialistischen Weltaktion zei- tigt, weiss das Gros der amerikanischen Juden die Schrift an der Wand noch immer nicht zu deuten. Der Gedanke "It can't happen here" wird in allen möglichen Fas- sungen abgewandelt. Rabbi Abraham J. Feldman aus Hartford hat sich Anfang (Fortsetzung auf Seite 6.) / \ v *"1 * r™ ' *"