BUENOS AIRES, 1. Juni 1939* JAHRGANG II. NUMMER 14 Mitteilungsblatt y Das andere Deutschland „Über den Grenzen und über dem Hass" Die Zahl der Kameraden und Freunde, die uns verlassen, wächst und wächst. Teils sind sie gemordet in den Konzentrationslagern, teils sind sie in der Emigration gestorben, und manche vermochten in dieser Welt der Barbarei, der feigen Herzlosigkeit und Lüge nicht mehr zu atmen und haben sich "freiwillig" aus ihr fortgemacht. Wieder haben zwei der Be- sten den Freitod dem Weiterleben vorgezogen. Alfred Kleinberg und Ernst Toller. Alfred Kleinberg war in Deutschland nicht so bekannt, wie er es verdiente. Er war eine der bedeutendsten geistigen und kulturellen Persönlichkeiten des deutschen Sozialismus in der tschechoslowakischen Re- publik, ein Kämpfer für die grossen Menschheitsideale des Sozialismus, ein aeschulter Marxist, aber jenseits der Enqiakeit und Gehässiakeit des Parteihaders. Nach dem Verrat von München hat er in ergreifenden Brie- fen seiner tiefen Enttäuschung und Hoffnunaslosiakeit Ausdruck verlie- hen, so dass sein Freitod kaum noch überraschend kam. Ernst Toller ist uns allen bekannt. Als er aus der Festungshaft in Stadelheim entlassen war, grüsste ihn die anlässlich einer arossen Kulturfestwoche in Leinzier versammelte sozialistische Jugend als ihren Führer. Aber er, der Mitar- beiter Eisners, der Mitbegründer und Verteidiger der Münchener Rätere- publik, war im Grunde kein Mensch, der den harten Erfordernissen des politischen Kampfes gewachsen war, er war mehr Dichter und Träumer und als solcher Wegbereiter der Zukunft. In USA hat er zuletzt erfolgreich für die Sache der spanischen Republik geworben. Vielleicht dass der Ver- tat an Spanien, dass Tragödie und Inferno Spaniens, verschuldet durch die grossen Demokratien , ihm das weitere Leben unmöglich gemacht haben. Wir grüssen die toten Kameraden, und wir gönnen ihnen die Ruhe "über den Grenzen und über dem Hass", wie es in dem untenstehenden Gedicht heisst. Aber die individuelle Lösung, die sie für sich gefunden haben, darf nicht die unsere sein. Uns bindet die Pflicht. Wir müssen Grenzen und Hass hier für die Menschen auf der Erde bekämpfen und überwin- den. Erste Bedingung dafür ist der Vernichtungskampf gegen den Fa- schismus. Solange irgend unsere Kräfte reichen, muss für uns das Ge- dicht gelten, das Berthold Viertel kürzlich in einer deutschen Kulturver- anstaltung in London vorgetragen hat: HIMMLER BESCHULDIGT HITLER DES HOCHVERRATS Deutschland hat angeblich "ein Volk ohne Raum", d. h. es ist über- völkert und braucht grosse neue Gebiete. Trotzdem wird auf alle Weise die Geburtensteigerung pro- pagiert. Man fördert die uneheli- chen Geburten bereits bei den BdM-Mädels, die noch halbe Kin- der sind, man empfiehlt einen "Zeugungshelfer", der in kinderlo- sen Ehen der Frau zu einem Kind verhelfen soll, kinderreiche Mütter erhalten Ehrenkreuze, und Herr Himmler, der so viele Tausende auf dem Gewissen hat, hält eine An- sprache vor dem Führerkorps der SS über das Thema "Wo bleiben die Kinder?" In dieser Ansprache hat er gesagt: "Jeder gesunde junge Deutsche verübt bewusst ein schweres Ver- brechen an seinem Volke, wenn er nicht zwischen dem 25. und 35. Jahr dem deutschen Volke und da- mit dessen Zukunft mindestens vier oder fünf Kinder schenkt. Diese Ziffer reicht nämlich nur hin, um den jetzigen Bestand des Achtzig- millionenvolks gerade zu erhalten. Aber ist dies genug? Unser Volk ist durch die zentraleu- ropäische Lage seines Raumes dauernden riesigen Blutverlusten ausgesetzt. Wir haben, wenn wir an die Zukunft denken, die Lehren der letztvergangenen Jahrhunderte nicht zu missachten. Also versündigen wir uns nicht nur Die Stimme eines italienischen Freundes Wir veröffentlichen im Folgen- den. einen Artikel von Romeo Percich, der unseren bonaeren- ser Freunden kein Unbekannter ist. Als der Faschismus 1922 an die Macht kam, glaubten wenige, dass er sich' konsolidieren würde. Er stützte sich weder auf eine solide Grundlage noch besass er ein Pro- gramm, das ihm ermöglicht hätte, die schwierigen Probleme eines Landes wie Italien zu lösen. Das Programm des Faschismus war rein negativ: Vernichtung aller Arbeiterorganisationen, Beseitigung der politischen Parteien, Abschaf- fung aller staatsbürgerlichen Frei- heiten. Aufhebung aller individuel- len Freiheiten. Das einzige, was als positiv bezeichnet werden könnte, lässt sich in der alten nationalisti- schen Parole: Kampf für die Grösse des Vaterlandes! ausdrücken. Bis zum Jahre 1932, wo eine inten- sive Aufrüstung mit dem Ziel der Wiederherstellung des alten römi- schen Reiches einsetzte, hat der Fa- schismus sich nur an der Macht halten könen, indem er alle Mittel der Nation zu Zwecken der polizei- lichen Ueberwachung und Knebe- lung einsetzte- Bis dahin war der Faschismus in der Aussenpolitik vorsichtig vorge- gangen, er hatte sich nicht von dem alten Weg der liberalen Politiker entfernt, den diese seit der Konsti- tuierung eines selbständigen Italien gegangen waren. Mussolini wollte zwar glauben machen, er besitze einen genauen Plan, der vollkom- men neuartig sei, aber da der in Wirklichkeit nicht vorhanden war, überliess er sich den Einfällen und Notwendigkeiten des Augenblicks, indem er sich skrupellos den einen annäherte, um sich von den ande- ren zu entfernen, aber dennoch im- mer die alten traditionellen Freundschaften Italiens beibehielt, deren Komplizität und finanzielle Hilfe ihn an der Macht erhielt. Hitlers Machtergreifung in Deutsch- land verstärkt die Position Mussoli- nis, gibt seiner Politik eine neue Richtung und erlaubt ihm, seinen imperialistischen Zielen näherzu- kommen. Das Bündnis der beiden Diktatoren bringt schon 1934 ernste Gefahren für den Frieden mit sich. Mussolini achtet nicht auf die wirk- lichen Interessen Italiens. Ihm liegt nur an seinem Prestige, das er mit allen Mitteln zu bewahren trachtet. Er ist ein wahrer Abenteurer der Politik. Er zögert keinen Augen- blick, sich allen Forderungen Hit- lers zu beugen. Er wird bald mehr nur ein Werkzeug der hitlerischen Politik sein. Italien verblutet und schwächt sich in Aethiopien. Hitler, der Mussolini zu jener Eroberung ermutigt hatte, benutzt diese Schwächung, um sich Oesterreich anzueignen und so sei- nen Verbündeten aus dem Donau- becken zurückzudrängen. Hitler be- nutzt den spanischen Bürgerkrieg, um mit der Eroberung der Tsche- choslowakei auch die letzten Ein- flüsse Italiens - in Mitteleuropa zu vernichten. Indessen vergeudet Mussolini den spärlichen Rest der italienischen Kräfte, um wegen ei- ner sehr fraglichen Eroberung Spa- niens und der italienischen Vorherr- schaft im Mittelmeer willen "Frei- willige" nach Spanien zu schicken. In einem Wort gesagt: die gesamte Aussenpolitik des heutigen Italien dient den Interessen des Dritten Reiches und geht auf Befehl der Hitlerregierung. Es ist nicht schwer, zu sagen, wel- che Folgen diese Politik auf die in- nere Lage Italiens ausüben wird. Das Wettaufrüsten hat in den letz- ten Jahren den Lebensstandard der Bevölkerung erheblich gesenkt, so- dass man sogar noch von einer Auswanderung nach den ausseror- dentlich armen afrikanischen Kolo- nien eine Erleichterung der Lage erhofft. Hinzu kommt die Furcht, in einen entsetzlichen Krieg verwickelt zu werden, in dem Italien wie von einem eisernen Ring umgeben sein wird. Unzufriedenheit in allen sozialen Schichten ist die Folge. Alle Nach- richten, die wir aus Italien bekom- men. stimmen darin überein: Nur die Interessierten und die, welche Angst um ihre Stellung haben, sin- gen Lobeslieder auf die Politik des Duce. Die arbeitenden und denken- den Schichten erschrecken vor der möglichen Katastrophe. Mussolini hat soviele Irrtümer be- gangen (einer von ihnen hätte ge- nügt, um einen Politiker der demo- kratischen Generation für immer unmöglich zu machen), dass man ihn öffentlich kritisiert. Wenn die Kritik nicht in tumultuösen Aus- brüchen explodiert, so ist das nur auf den gigantischen Polizei- und Ueberwachungsapparat des Fa- schismus zurückzuführen. Aber die wirtschaftlichen Auswir- kungen, die ein Krieg mit sich bringt, erschrecken das italienische Volk ebensosehr wie der Krieg selbst. Italien ist ein armes Land- Seine Handelsbilanz ist immer negativ ge- wesen, nur durch die gesparten Beträge der Ausgewanderten wur- de das Gleichgewicht hergestellt. Die Wahnvorstellung einer italieni- schen Autarkie hat den Handel lahmgelegt und die Auswanderung gestoppt. Die Industrie ist aus Man- gel an Kunden und Märkten lahm- gelegt. Nur die mittel- oder unmit- telbare Kriegsindustrie arbeitet und verbraucht alle die wenigen Roh- stoffe, die auf Grund der Devisen- knappheit eingeführt werden kön- nen. 35 % des Produktes der italieni- schen Arbeit gehen in Form von Steuern an die Regierung. Der ist das noch zu wenig, da es nicht reicht, um das Rüstungsprogramm durchzuführen und Hunderttausen- de ziviler und uniformierter Parasi- ten zu erhalten. Ein Krieg würde diese schlimme Lage bis ins Schlimmste steigern. Das Volk begreift das mehr und mehr. Aber dem Faschismus bleibt kein anderer Ausweg als Krieg oder wirtschaftlicher Bankerott. Dabei gewährt der Krieg wenig- stens noch die Hoffnung einer Ret- tung. Neu eroberte Gebiete könn- ten so ausgebeutet und unterdrückt werden, wie das heute dem italie- nischen Volke geschieht. Aber schon jetzt springt die Wahnidee dieser faschistischen Ansicht in die Augen. Aus vielerlei Gründen ist es heute nicht mehr möglich, eine Gewaltpolitik durchzuführen. Mög- lich, dass die Gewalt für einen Au- genblick siegt, aber sehr bald muss der Tag kommen, da das Recht den Sieg davonträgt über die Gewaltpolitik, die nur den Menschen der Steinzeit adäquat ist. In vielerlei Hinsicht besteht ein Ge- 4 mitteilungsblatt Das andere Deutschland „Über den Grenzen und über dem Hass ».» Die Zahl der Kameraden und Freunde, die uns verlassen, wächst und wächst. Teils sind sie gemordet in den Konzentrationslagern, teils sind sie in der Emigration gestorben, und manche vermochten in dieser Welt der Barbarei, der feigen Herzlosigkeit und Lüge nicht mehr zu atmen und haben sich "freiwillig" aus ihr fortgemacht. Wieder haben zwei der Be- sten den Freitod dem Weiterleben vorgezogen. Alfred Kleinberg und Ernst Toller. Alfred Kleinberg war in Deutschland nicht so bekannt, wie er es verdiente. Er war eine der bedeutendsten geistiqen und kulturellen Persönlichkeiten des deutschen Sozialismus in der tschechoslowakischen Re- publik, ein Kämpfer für die grossen Menschheitsideale des Sozialismus, ein aeschulter Marxist, aber jenseits der Fnaiakeit und Gehässiakeit des Parteihaders. Nach dem Verrat von München hat er in erareisenden Brie- fen seiner tiefen Fnttäuschuna und Hoffmmaslosiakeit Ausdruck ■»■erlie- hen, so dass sein Freitod knurn noch überraschend Vam Ernst Toller iqt uns allen bekannt. Als er aus der FestunnsVirfft in Stadelheirn entladen war. arüsste ihn die anläßlich eine'- arossen tfulturfA