Das Andere Deutschland (LA OTRA ALEMANIA) Periodico alemän independiente PREIS: 20 CTVS. — JAHRESABONNEMENT: 2 PESOS BUENOS AIRES TUCUMAN 309 15. DEZEMBER 1939 — JAHRGANG II — NUMMER 20 In dieser Nummer: Finnland-Russland Misstrauen gegen Chamberlain Mussolini in der Klemme Hitler lernt um Gewitterwolken über dem Balkan U. a. Beiträge von H. G. WELLS, ANNA SIEMSEN, HANS'SAHL FINNLAND Der „erbitterte politisch-diplomatische Kampf, der in ganz Europa als ein wesentlicher Teil dieses bisher so anders, wie man geglaubt hat, verlau- fenden Krieges geführt wird, ist unerwartet schnell in den offenen blutigen Konflikt zwischen Russland und Finnland ausgeartet. Da man nichts Si- cheres über das weiss, was sich hinter den Kulissen abgespielt hat, ist es heute noch nicht möglich, Endgültiges zum russisch-finnischen Konflikt zu sagen. Tatsache ist, dass Russland den Krieg begonnen hat, und dass er mit Be- schuldigungen gegen die angegriffene Macht eingeleitet wurde, wie sie, schon immer zu den Gepflogenheiten der Diplomatie gehörend, ihre massi- ven Formen erst seit dem Aufkommen des Faschismus angenommen ha- ben. Diese nun auch von Russland akzeptierten Methoden und das Bom- bardement finnischer Städte haben in der ganzen Welt Entrüstung her- vorgerufen. F.? soll keine Rechtfertigung dieser Methoden bedeuten, wenn wir darauf hinweisen, dass zu den Entrüsteten auch dasselbe faschistische Italien ge- hört, welches die friedlichen abessinischen Dörfer bombardiert oder mit allen Bewohnern verbrannt hat und noch heute verbrennt und vernichtet. Besonders empört sind die Franca-Anhänger in Spanien, die zwecks "Ver- teidigung der abendländischen Kultur und des Christentums" mit Hilfe der italienischen und deutschen Flieger spanische Städte zerstört, spanische Frauen und Kinder zu Zehntausenden massakriert haben. Auch der Papst stimmt ein, der kein Wort des Protestes gegen diese Greuel gefunden, vielmehr den Franquisten seinen Segen erteilt hat. Und endlich sind alle die Kreise dabei, welche auf Seiten Francas standen oder wenigstens wohl- wollend schwiegen, als er die himmelschreienden Greuel gegen sein ei- genes, um Freiheit und Brot kämpfendes Volk beging. Es sollte zum Nqchdenken veranlassen, wenn alle diese Leute heute Zeter und Mordio schreien, obwohl das, was die Russen jetzt getan haben, bei weitem nicht heranreicht an die abessinischen und spanischen Greuel. Nur wer damals aus Menschlichkeitsgründen protestiert hat, hat das Recht, es auch heute zu tun. Wer damals schwieg und heute schreit, tut es of- fensichtlich nur, weil es sich heute nicht um Faschisten handelt, sondern um Sowjetrussland. Wesentlich ist die Frage nach den Gründen, die Russland zu seinem Vor- gehen veranlasst haben. Es lohnt natürlich nicht, auf Hassausbrüche einzu- gehen, wie man sie in z. B. "El Mundo" lesen konnte. Da hiess es: "Die rus- sische Hyäne ist erwacht und sie will Blut und Feuer. Sie will das masslos, sodass das Blut von dem zerstückelten Körper Finnlands kaum seinen Ra- chen netzt." Das sind die bekannten Töne der Liga gegen den Bolschewismus. Man kennt Weise, Text und Verfasser. Aber auch die Behauptung, dass Sowjetruss- land mit dem Angriff auf Finnland in die imperialistischen Wege des Za- rismus eingelenkt sei, entbehrt vorläufig ausreichender Begründungen und damit der Beweiskraft. Bisher ist noch nicht einmal erwiesen, dass Russland die günstige Gelegenheit benutzen will, um alle Gebiete zurück zu erlangen, die man ihm nach dem Y/elikrieg zur Zeit seiner Schwäche genommen hat. Von Polen hat es nur diejenigen Teile wieder verlangt, 2 die russische oder ukrainische Bevölkerung besitzen. In den Baltikum- staaten und in Finnland hat es vor allem strategische Position gesucht. Und damit kommen wir zu den entscheidenden Gründen des finnisch-rus- sischen Konflikts. Man ist sich in Moskau zweifellos klar darüber, dass der Ausbruch des Krieges in Europa der Beginn entscheidender Auseinandersetzungen von allerweitestem Ausmass ist. Man hat gewiss die früheren Versuche zur Vernichtung des eben gegründeten Sowjetstaates noch nicht vergessen. In frischer Erinnerung ist die gewollte Brüskierung und Isolierung Russ- lands beim Münchener Abkommen und die Absicht Chamberlains, Hitler gegen Russland abzulenken. Die Verhandlungen in Moskau waren bei- derseits von weitgehendem Misstrauen begleitet und selbst nach der An- nahme prominenter Engländer von Chamberlain niemals ernst gemeint, sondern als Druckmittel auf Hitler gedacht. Dieselben Männer, die das Münchener Schmachabkommen schlössen, sind noch heute in London und in Paris am Ruder, und die Gerüchte wollen nicht verstummen, dass massgebende englische Kreise mit der deutschen Reaktion über den Sturz Hitlers und die Aufrichtung einer gemeinsamen Front gegen Russland ver- handeln. Im "Argentinischen Tageblatt" schrieb der Wirtschaftsredakteur am 3. Dezember "Es ist kein Geheimnis, dass Sie John Simon die Kosten des Krieges in besonders drastischer Form geschildert hat, um Stimmung für ein zweites München zu machen, durch das Deutschland zur Vorhut im Kampf gegen den Sowjetkommunismus gemacht würde." Dass sich Sowjetrussland in. einer solchen Situation und vor solchen Ge- fahren zu sichern sucht, darf wahrhaftig nicht wunder nehmen. Und so fährt das "Argentinische Tageblatt" fort: "Wie sehr man die Gefahr die- ser Politik in Russland selbst erkennt, zeigt die rücksichtslose strategische Sicherungs-Politik der Sowjetunion, die nur durch die Erwartung eines deutschen Angriffs mit alliierter Hilfe zu erklären ist." Und ähnlich hat sich die "Prensa" am 2. Dezember geäussert: "Angesichts der gefährli- chen Ausdehnung Deutschlands nach Osten. , . war es für Russland Zeit, sich mit der eigenen Sicherheit in seinem alten baltischen Herrschaftsbe- reich zu beschäftigen, ehe es zu spät war. Wenn Russland es nicht war, das Dago, Oese!, Libau, Windau etc. besetzte, so hätte es Deutschland schnell getan." Und dann wird weiter betont, dass die Sicherung Lenin- grads und des Finnischen Meerbusens, sowie die Besetzung der Aalands- Inseln für Russland lebenswichtig seien. Die zu diesem Zwecke an Finnland gestellten Forderungen richteten sich also — das kann nicht ernsthaft bestritten werden — in erster Linie ge- gen den derzeitigen "Bundesgenossen" Deutschland, dessen erneute An- lehnung an England man fürchtet. Selbst die Nachrichten aus London und Paris besagen ja, dass man dort der Meinung ist, Deutschland werde durch das russische Vordringen immer mehr seiner Positionen in der Ostsee beraubt und gerate in immer grössere Ahängigkeit von Sowjet- russland. Das erstere begrüsst rrjan, weil und solange Deutschland ein gefährlicher Gegner ist; das andere fürchtet man, da man keine Macht- ausdehnung Sowjetrusslands will. Es ist nicht völlig klar, weshalb Finnland die gemässigten russischen For- derungen abgelehnt hat, für deren Erfüllung Moskau Kompensationen bot und durch die Finnlands Selbständigkeit nicht aufgehoben wurde. 3 Man darf vermuten, dass nicht nur England, sondern auch Deutschland der finnischen Regierung den Rücken gesteift hat. Zweifellos bestand fer- ner bei den massgebenden bürgerlichen Kreisen Finnlands die Befürch- tung, der kommunistische Einfluss könne gefährlich anwachsen. Und end- lich scheint die finnische Regierung nicht an Gewaltanwendung von Sei- ten Russlands geglaubt zu haben. In Moskau andererseits scheint man ernsthaft mit einer schon bald bevorstehenden englisch-deutschen Ver- ständigung auf Kosten Russlands gerechnet und sich deshalb zu schnel- lem Vorgehen entschlossen zu haben. Wir halten die Annahme, in Deutschland könne sich nach Hitlers Sturz eine militärisch-kapitalistische Regierung behaupten, für falsch, aber das ist für unsere Fragestellung hier ohne Belang. Es würde verfrüht sein, zu den Gerüchten Stellung zu nehmen, die an- lässlich des russischen Angriffs auf Finnland von einer Aufteilung der Interessensphären im Norden und im Südosten Europas zwischen Russland und Deutschland zu berichten wissen. Es bleibt abzuwarten, ob an sol- chen Gerüchten etwas Wahres ist. Wir begnügen uns deshalb mit der Wiederholung unserer Worte aus der vorigen Nummer: "Sollte Russland Hitler den Weg zum Schwarzen Meer und zum rumänischen Petroleum freigeben, so würde es damit Hitler höchst ernsthafte Helferdienste lei- sten, und wir würden dann eine solche Politik aufs entschiedenste be- kämpfen." Ein Wort zum Schluss! Alle politischen Leidenschaften sind heute aufs höchste gesteigert. Das ist gut so. Allzu lange haben die Menschen resig- niert und passiv zugesehen, wie das Verbrechertum sich in der Politik austoben und Europa ruinieren konnte. Wir selbst sind leidenschaftliche Todfeinde des Faschismus und insbesondere des Nationalsozialismus. In solchen Zeiten leidenschaftlicher Parteinahme ist Irrtum leicht und ruhi- ges und nüchternes Urteil über die Vorgänge schwer. Um so mehr soll man danach trachten und nicht hin und her schwanken. Bei unserm Ver- such, abzuwägen und ruhig zu urteilen, sind wir schon mehrfach von de- nen falsch verstanden worden, die vor allem Parteinahme, nicht aber kri- tische Auseinandersetzung und Aufklärung suchen und zwar sind die gleichen Artikel, die nach dem Standpunkt der Kritiker in entgegenge- setztem Sinne verstanden, bezw. umgedeutet worden. Uebereifrigen Kri- tikern sei deshalb vorsichtshalber nochmals gesagt, dass in diesem Artikel kein Wort zur Verteidigung der Methoden geschrieben worden ist, die Russland bei seinem Angriff auf Finnland angewendet hat, wohl aber einiges zu ruhigerer und gerechterer Beurteilung der russischen Position und Politik. UNPOLITISCHE! Die Wiederherstellung des makello- sen deutschen Namens erkämpfen wir AUCH FUER EUCH! Darum ist das Gebot der Stunde und des Gewis- sens: Farbe annehmen und Farbe bekennen! 4 Misstrauen gegen Chamberlain Erfahrungsgemäss ignorieren viele Zeitungsleser den Handelsteil, ob- wohl man in ihm. oft wichtigere Aufschlüsse politischer Art erhält als in dem politischen Teil selbst. Wir drucken deshalb aus der wirtschaft- lichen Wochenübersicht des "Argentinischen Tageblattes" vom 10. Dezember mit Erlaubnis der Redaktion die folgenden aufschlussrei- chen Ausführungen ab. "Der Protest der Vereinigten Staaten gegen die englische unbeschränkte Blockade mag noch so platonisch gemeint, noch so sehr dem Wunsch entsprungen sein, das Gesicht der Neutralität zu wahren: man sollte ihn und die entsprechenden Proteste der übrigen neutralen Staaten trotzdem beachten. Denn er ist nur die äusserliche Manifestation einer innerlichen Entwicklung, die viele Jahre im Gang war und die sich nach den Münch- ner Erfahrungen vom September 1938 verschärfte. England hat von dem Dritten Reich aus den laufenden Clearingabkom- men heute die Summe von 40 Millionen Pfund, also über 600 Millionen Pesos, das heisst, die Hälfte der jährlichen Staatsausgaben Argentiniens, zu fordern. Das bedeutet, dass England seit 1933 nicht nur auf einen gro- ssen Teil der ihm zustehenden Zinsen aus Darlehen an Deutschland ver- zichtet, sondern darüber hinaus noch für 40 Millionen Pfund mehr an das Dritte Reich geliefert hat, als es von dort bezog — und die englischen Käufe in Deutschland waren sehr hoch, so hoch, dass zum Beispiel die englische Automobilindustrie selbst durch die Einfuhr deutscher Kraft- wagen litt. V/er hat je daran gezweifelt, dass der überwiegende Teil dieser Lieferun- gen für die deutsche Rüstung bestimmt war? In England allerdings hat niemand, haben auch weder Eden noch Churchill gewagt, das Verbre- chen anzuprangern, dass man dem sicheren Gegner von morgen, der den Wunsch, das englische Empire "aufzubrechen" ganz offen diskutierte, die Waffen lieferte, um sich für den Kampf mit freiheitlichen Elementen im eigenen Land, und darüber hinaus für die Vergewaltigung von Ländern wie Oesterreich, der Tschechoslowakei und für den Terror im Innern zu rüsten. Aber im Auslande erkannte man die englische Kurzsichtigkeit sehr genau. Man wusste, dass England zwar nicht gezögert hatte, wegen des Ueberfalls auf ein Land wie Abessinien den Boykott gegen Italien von al- len Ländern zu fordern, (mit der schon damals entscheidenden Ausnahme der Lieferungen von Petroleum, die Italien überhaupt erst die Durchfüh- rung des Abessinien-Krieges ermöglichte), dass es aber weder aus Mün- chen, noch aus der offenen Verletzung des Münchner Abkommens die gleichen Konsequenzen zog. Die jetzt veröffentlichte Ziffer über die Hö- he der englischen Forderungen aus dem Clearing mit Deutschland bestä- tigt, dass sehr grosse englische Lieferungen bis in die jüngste Zeit getä- tigt wurden. Warum sollen nun, so fragen die Neutralen, plötzlich andere Regeln gel- ten, als sie viele Jahre lang von England angewendet wurden? Und wei- ter — und das ist die entscheidende Frage: wer gibt uns die Garantie, dass nicht England seine Haltung gegenüber dem Dritten Reich plötzlich ändert, dass es nicht eines Tages wieder eine deutsche Regierung, sie mag 5 heissen wie sie wolle, als das "Bollwerk gegen den Bolschewismus" an- sieht, das wie sich jetzt herausstellt, die gesamte Clique um Baldwin und Chamberlain tatsächlich bis zum August 1939 in Deutschland zu sehen glaubten? Man sieht: die nicht zu verteidigende und allen anderen Ländern unver- ständliche Haltung in den Jahren 1933 bis 1938 und weit ins laufende Jahr hinein hat England ausser enormen materiellen Schäden auch ideellen Schaden zugefügt. Die einseitige Betonung der Verpflichtungen, Finn- land gegen die Sowjetunion zu helfen, ohne dass auch nur daran erin- nert wird, welche Verpflichtungen man gegenüber der ebenso demokrati- schen Tschechoslowakei hatte; dazu die Zurückhaltung der englischen Käufe, ungeachtet der nicht unbeachtlichen Verluste durch den Minen- krieg; all das schafft jene unsichere Stimmung, die verhindert, dass die neutralen Regierungen so hundertprozentig mit den Alliierten mitgehen, wie sie es angesichts der Welt-Verurteilung des Nationalsozialismus tun würden, wäre deren Politik eine eindeutige Abkehr von den München-Me- thoden." -- Solange Chamberlain und die Verantwortlichen für die Preisgabe Spa- niens und der Tschechoslowakei und für die Ermutigung der Hitlerdikta- tur in England noch am Ruder sind, haben wir sicherlich ebenso viel Grund zum Misstrauen wie U. S. A. und die Neutralen. DER SINN DES KRIEGES Der weltberühmte englische Schriftsteller und Sozialist H. G. Wells, hat folgendes über den Sinn des jetzigen Krieges geschrieben: Schon am Ende des Weltkrieges hatte die ganze Welt das Gefühl, dass eine grosse Revolution aller menschlichen Dinge bevorstehe; das Wort "Krieg, um den Krieg aus der Welt zu schaffen" war der Ausdruck dieses weitverbreiteten Empfindens und sicherlich hätte es keinen tieferen Bruch mit der bisherigen Tradition und den bestehenden Regierungsformen ge- geben als dies. Aber diese Revolution hat sich nicht erfüllt. Der Völker- bund, das können wir heute zugeben, war ein armseliges und schwächli- ches Ergebnis dieses revolutionären Vorhabens, den bewaffneten Streit aus der Welt zu bannen und ein neues Leben für die Menschheit zu be- ginnen . Er bewahrte zuviel vom Bestehenden, er blieb halbschlächtig und diplomatisch. Und da — wie immer mehr von uns heute erkennen —- Friede und Sicherheit auf Erden nicht mehr ohne eine tiefe Umwälzung der Methoden des menschlichen Lebens möglich sind, fand der Weltkrieg in Wahrheit kein Ende, sondern glomm durch zwei Jahrzehnte weiter, die zwecklosen Zwanziger) ahre und die angsterfüllten Dreissiger] ahre, — um nun von neuem aufzuflammen. Heute, auf einer höheren Stufe der Span- nung, der Gewalt und der Zerstörung, auf einer breiteren Basis des Lei- dens, sind wir wieder dort, wo wir 1914 waren und die entscheidende Frage, vor der das Menschengeschlecht steht, ist, ob es diesmal entschlos- sener an jene tiefgreifende Umwälzung von Ideen und Beziehungen, an jene Weltrevolution herangehen will, der es durch ein Vierteljahrhundert ausgewichen ist. Wenn diese Revolution erfolgreich vorsichgehen und eine neue Zeit menschlichen Glücks und menschlichen Strebens einleiten 6 soll, kann sie nur durch die vollste, rücksichtsloseste Erörterung jeder Sei- te und jeder Möglichkeit der gegenwärtigen Lage herbeigeführt werden. Wir sehen vor uns die Lehre des grossen russischen Experiments. Was im- mer man über das Ergebnis der sozialistischen Bewegung denken mag, die ihre hauptsächliche Verkörperung im Kommunismus nach 1848 fand, kann es heute keinen Streit über die grundsätzliche Vortrefflichkeit der Idee einer weltumfassenden internationalen Ordnung sozialer Gerechtigkeit geben, eines Weltfriedens, von dem der Antrieb privaten Profits ausge- schaltet werden soll. Aber vom Anfang an begegnete diese Bewegung der Unterdrückung. Sie konnte, was sie zu sagen hatte, nicht frei und offen aussprechen; sie wurde zu einer Weltbewegung mit dem ungewollten Gepräge der Verborgenheit. Das Ergebnis der Unterdrückung voller und freier Diskussion revolutionärer und selbst der extremsten Vorschläge ist, sie in die Illegalität zu drängen. Dies bedeutet nicht die Rettung eines ver- brauchten und verfallenen Regimes, aber es treibt die Kritiker, die eine neue Ordnung erörtern, zu Verschwörermethoden, zu terroristischer Heim- lichkeit, zu erstarrendem Dogmatismus. Als schliesslich die Revolution in Russland kam, lag sie in den Händen von in der Illegalität aufgewach- senen Menschen und das Sowjetregime, das, praktisch unerfahren, alles zu lernen gehabt hätte, verschloss sich der freien Diskussion und der freien gegenseitigen Kritik gegenüber dem Westen und entartete so zu dem ver- hüllten, unberechenbaren, persönlichen Regiment von heute. Das war die Revolution im Dunkel! Kann nicht unsere westliche Welt auf ihrem ganz unentrinnbaren Wege zu einem Weltkollektivismus ihre Umwandlung im vollen Tageslicht, in einer Atmosphäre vollster Offenheit und gegenseiti- ger Duldung ins Auge fassen? Das, was mich heute am meisten er- schreckt, ist die offenkundige Drohung eines neuen schwächlichen Auf- schiebens unseres Strebens nach einer neuen Welt durch irgndeine Wie- derholung des Scheingebildes von Genf. . . Der Krieg im Zeichen des Luft- schutzes verdunkelt alles. Sollten wir in den Strassen der Welt nicht mehr Licht haben? "EL PAMPERO" Auch ein Posten auf der deutschen Verlustliste Vom vergangenen Weltkrieg her verbinden wir mit dem Ausdruck "Ver- lustliste" gewöhnlich die Erinnerung an jene endlos langen Aufstellungen der Gefallenen. Es sei zugegeben, dass es Hitler noch nicht gelungen ist, bisher auch nur annähernd so viel Deutsche in den Tod zu schicken wie die ersten Weltkriegs-Monate gekostet hatten. Selbst wenn man die im Altreich seit Kriegs-Beginn standrechtlich erschossenen 2178 Soldaten und 4716 hingerichteten Zivilisten mitrechnet, sowie dazu noch die 2297 To- des-Opfer der Nazi-Justiz in Oesterreich hinzuzählt, kommt man noch nicht zu Zahlen, die das Gewissen eines Hitlers irgendwie beunruhigen könnten. Alles dies sind auch nicht die Einbussen, auf die wir heute ein- gehen wollen. Wir wissen ja, dass das Massenschlachten erst noch be- vorsteht. Es wäre darum verfrüht, heute in dieser Beziehung schon eine Bilanz aufzustellen. Es gibt aber andere Verluste, die schon jetzt eine entscheidendere Bedeu- 7 tung gewonnen haben. Sie werden selbst durch einige Siege der Nazis kaum wieder aufgewogen werden können. Hier hat Herr Hitler besonders auch die moralischen Verlust-Posten in seine Kriegsbilanz einzusetzen. Wer meint, dass diese doch keinen rechten Nazi aus der Ruhe bringen können, der frage einmal Herrn Goebbels. Im Lügen-Ministerium wird man genaue Auskunft darüber geben können, wieviele Devisen-Millio- nen heute dafür ausgegeben werden müssen, um auch nur etwas von dem geschwundenen Ansehen zurückzugewinnen. Und um zu merken, wie wenig in dieser Beziehung selbst jene kostbaren Devisen vermögen, dazu brauchen wir Auslands-Deutschen nur Augen und Ohren aufzuhalten. Da erscheint zum Beispiel seit wenigen Wochen unter dem Titel "El Pam- pero", ein neues Abend-Blatt in Buenos Aires. Jedem guten Criollo müss- te ob des wohlgewählten Zeitungs-Namens das Herz höher schlagen, so hofften wenigstens Herr Goebbels und seine jungen Leute in Argentinien. Aber, ach, das Ergebnis sah leider ganz anders aus. Am ersten Tage konnte man zwar kaum drei Schritte über die Florida gehen, ohne dass einem der "Pampero" entgegenheulte. Und auch heute ikt er, das sei zu- gegeben, noch nicht ganz still geworden. Dazu hat der Lügen-Minister einen zu guten Atem beziehungsweise einen zu dicken Geldbeutel. Nun gehe man aber einmgl bei den angestammten Zeitungs-Verkäufem herum und frage sie nach der neuen Abend-Zeitung. Da erlebt man et- was, was für Argentinien neu ist. Immer wieder stösst man auf die entrü- stete Antwort: "Nein, mein Herr, ein solches .... Blatt verkaufe ich nicht." Und wenn Sie gar weiter fragen, ob denn daran nichts zu verdienen ist, dann erleben Sie ein noch grösseres Wunder. "G doch", erwidert der Canillita, "so gar sehr viel. Ich bekomme das Blatt gratis. Der ganze Erlös von 10 cts. ist also mein Verdienst. Aber trotzdem muss ich den Verkauf ablehnen." Immerhin soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, als sei der Ab- scheu gegen den "Pampero" allgemein so gross, dass sich nicht doch ei- nige Verkäufer finden liessen. Diesen Leuten muss aber offenbar noch mehr geboten werden als der gesamte Erlös aus dem Verkauf. Wer woll- te sich auch sonst solch unangenehmen Erlebnissen aussetzen, wie sie den Pampero-Verkauf er erwarten. Immer wieder passiert es nämlich, wenn einer dieser Unglücklichen seine Ware in einem öffentlichen Lokal anbietet, dass ihm die freundlichen Rufe entgegentönen: "Hinaus mit Dir, Du Dreigroschen-Junge! Aber nicht genug mit den Verkaufs-Schwierigkeiten. Auch aus anderen Gründen richtet der "Pampero" verheerende Schäden in den Taschen des Herrn Goebbels (oder auch nur in der 11Winterhilfswerks-Kasse' der hie- sigen Nazis?) an: Bekanntlich fliesst eine der Haupt-Einnahmen für jede Zeitung aus ihrem Inseraten-Geschäft. Wir geben nun zu, dass wir es nicht fertig brachten, jede bisherige Nummer in die Hand zu nehmen, um sie auf Anzeigen zu prüfen. Immerhin haben wir Ausgaben des "Pam- pero" gesehen, in denen anscheinend keine einzige bezahlte Anzeige stand. Das ist ja auch verständlich. Welche Firma möchte sich öffentlich in dieser Umgebung zeigen! Wie schmerzlich das bisherige Ergebnis für die Nazi-Kasse ist, das zeig- te eine kleine Notiz, die kürzlich durch die Presse ging. Danach hat die deutsche Regierung der argentinischen vorgeschlagen, diese möge etwa 2 Millionen aus dem Guthaben des Dritten Reichs in Argentinien an die 8 Nazi-Botschaft überweisen. Haben also nicht einmal die erhöhten Win- terhilfs-Beträge, die den Arbeitnehmern in deutschen Betrieben Argen- tiniens abgeknöpft werden, für die Finanzierung des neuen Nazi-Organs ausgereicht? Men kann also an diesem einen Beispiel ersehen, dass glücklicherweise das Schwinden des Ansehens nicht nur ein moralischer Verlust für das Dritte Reich ist. Es übt vielmehr recht unangenehme Wirkung auf die oh- nehin schon so knappen Devisen-Bestände aus. Dabei muss noch bedacht werden, durch wieviele Kanäle das Goebbelsgeld fliesst. Sei es, dass man die Radio-Reklame einer Zahnbürstenfabrik finanziert, um den nazisti- schen Transozean-Nachrichtendienst durchgeben zu können. Sei es, dass man den hierfür etwa zugänglichen Zeitungen gratis Presse-Meldungen liefert, oder dass man ausser dem Abend- auch noch ein Morgenblatt aushält. Daneben gibt es ja noch so viele unsichtbare Methoden, um die Meinung zu beeinflussen. Wir fürchten nur, dass das Lügen-Ministerium auch mit seinen sonstigen Versuchen nicht viel bessere Erfolge als mit dem "Pampero" erzielt. Wenn man dann noch bedenkt, wie nicht nur in Argentinien, sondern auch in den anderen Ländern Südamerikas und der übrigen Erdteile die Propa- ganda-Mark mehr oder minder mit Schwierigkeiten zu ringen hat, dann sieht man deutlicher, welch grosser Posten von finanzieller Bedeutung auf der deutschen Verlust-Liste das Schwinden des moralischen Ansehens be- deutet. Auch das verdanken wir "unserem Führer!" Hitler lernt um (Aeusserungen Hitlers zur Zwangsumsiedlung der Baltikumdeutschen) "Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewusst einen Strich unter die au- ssenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir sahliessen endlich ab die Kolonial- und Handelspo- litik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, kön- nen wir in erster Linie nur an Russland und die ihm Untertanen Rand- staaten denken. Das Schicksal selbst scheint uns hier einen Fingerzeig geben zu wollen. Indem es Russland dem Bolschewismus überantwortete, raubte es dem russischen Volk jene Intelligenz, die bisher dessen staatlichen Bestand herbeiführte und garantierte. Denn die Organisation eines russischen Staatsgebildes war nicht das Ergebnis der staatspolitischen Fähigkeiten des Slawentums in Russland, sondern vielmehr nur ein wundervolles Bei- spiel für die staatenbildende Wirksamkeit des germanischen Elements in einer minderwertigen Rasse. So sind zahlreiche mächtige Reiche der Er- de geschaffen worden. Niedere Völker mit germanischen Organisatoren und Herren als Leiter derselben sind öfter als einmal zu gewaltigen Staa- tengebilden angeschwollen und blieben bestehen, solange der rassische Kern der bildenden Staatsrasse siqh erhielt. Seit Jahrhunderten zehrte Russland von diesem germanischen Kern seiner oberen leitenden Schich- ten." __ (Mein Kampf, Seite 742—743) S Die Stellungnahme der sozialistischen Parteien zum Krieg Unter dieser Ueberschrift veröffentlichte die in Paris erscheinende Zeitschrift der österreichischen Sozialisten einen Aufsatz von Aus- triacus, deren Schluss so lautet: Ueber die Stellungnahme der sozialistischen Parteien in den Ländern der Diktatur braucht nicht berichtet werden: sie ist klar und insbesondere alle Gruppen des deutschen Sozialismus haben ebensowenig gezögert, sie auszusprechen, wie wir östereichischen Sozialisten. Diesen Feststellungen über die Haltung der sozialistischen Parteien zum Krieg muss abschliessend hinzugefügt werden: es gibt keine Stellungnah- me der sozialistischen Internationale. Die Sozialistische Arbeiter-Internationale hat bis 2um Augenblick, da wir schreiben, nicht vermocht, eine einheitliche Willenskundgebung der inter- nationalen sozialistischen Bewegung zustandezubringen. Das kommt nicht überaschend. Die Gegensätze innerhalb der SAI sind bekannt; ihre Lähmung ist seit Monaten offenkundig; ihr Führungsapparat befand sich zuletzt in einem Zustand der latenten Demission und hätte, selbst wenn er wollte und könnte, kaum das formale Mandat zu massgebendem Han- DER UNPOLITISCHE HILFT DEN NAZIS, ALSO DEN VERDERBERN DEUTSCHLANDS dein. Dieser Zustand hat verschiedene Ursachen: die oben erwähnte po- litische Scheidung in Parteien, die die Kriegführung ihrer Länder, und solche, die die Neutralität ihrer Regierungen unterstützen, ist eine davon. Die Tatsache, dass das Proletariat der Diktaturländer in der Internatio- nale entweder gar nicht oder nur durch Emigrantenparteien vertreten ist, bedeutet eine Lücke, eine Schwächung und, aus der Verschiedenheit der Kampfbedingungen hervorgehend, einen Gegensatz zwischen legalen und illegalen Parteien. Vor allem aber spricht aus der Stummheit der In- ternationale im Angesicht des Krieges laut und deutlich der heutige Zu- stand der Arbeiterbewegung der Welt, ihr grosser Sündenfall: das Ueber- wiegen der nationalen Interessen und der nationalen Politik der Arbeiter- klasse über die internationalen. Das Versagen der internationalen Organisation gegenüber einer weltge- schichtlichen Tatsache von welterschütternder, weltumwälzender Bedeu- tung ist vollständig und ist schmerzlich. Dennoch ist es kein dramatischer Zusammenbruch wie 1914, sondern einfach ein Nichtvorhandensein, kei- ne Katastrophe, sondern die Konstatierung eines Ablebens. Und wir sind fest überzeugt, dass zu den Dingen und Kräften, die im Feuer des Krieges und der Kriegsfolgen umgeschmolzen und neugeschmiedet werden, auch die internationale Organisation der Arbeiterklasse gehört. In der internationalen sozialistischen Arbeiterbewegung besteht also in den ersten Wochen des Krieges eine starke ideologische Uebereinstim- 10 mung in der Gegnerschaft gegen den Hitlerfaschismus, eine schwache Gemeinsamkeit der Grundauffassungen, eine völlige Verschiedenheit der Mittel, eine gänzliche Lahmlegung der internationalen Aktion und Orga- nisation. Ist eine Regeneration der Bewegung möglich? Unter welchen Vorausset- zungen kann sie sich vollziehen? Der Gluthauch des Krieges kann die Ent- wicklung rasch vorwärtstreiben. Aus neutralen Ländern können kriegfüh- rende werden. Grosse legale Parteien müssten zu begreifen beginnen, dass sie in den illegalen Parteien die Wortführer der Arbeiterklasse des feindlichen Landes vor sich haben — jener Arbeiter, die man gewinnen muss, wenn man den Kampf an der inneren Front, wenn man den Krieg und die Zukunft gewinnen will. Doch dies gehört bereits dem Kommen- den an, das heute der Feuerschleier der Schlachten verbirgt und das uns nur unser felsenfestes Vertrauen in den Sieg des Sozialismus ertragen lässt. Für heute wollten wir bloss von Gegenwärtigem sprechen. In voller Uebereinstimmung mit der von uns hier vertretenen Auffassung schreibt das Auslandsbüro der Gruppe "Neubeginnen" in seinem Oktoberbrief folgendes: Nicht aus der Stärke der demokratisch-sozialistischen Abwehr gegen den Faschismus ist der Krieg entstanden, sondern nachdem ihre Liquidierung nur noch den nackten Gegensatz der Interessen übrig gelassen hat. Nicht die Vorkämpfer der geopferten spanischen und tschechischen Demokratie, sondern die Exponenten von München sind es heute, die die Kriegsfront gegen den Faschismus führen. Und - dennoch ist der Sieg dieser Front, ist der militärische Erfolg von Hitlers Feinden, wer immer sie sind, die Voraus- setzung für das Ende der Reaktionsperiode. Deshalb ist die Parteinahme im Krieg gegen Hitler, der Einsatz aller Kräfte »für die Niederlage Hitlers notwendig nicht nur vom deutschen, sondern auch vom internationalen so- zialistischen Standpunkt aus, weil der deutsche Faschismus das Kraftzen- trum der internationalen Reaktion ist. Erst sein Sturz kann wie in Deutsch- land so international die demokratischen und sozialistischen Kräfte zum Kampf für ihre eigene Ziele freisetzen. Ein Mann namens FRITZ KUHN ist in New York am 5. Dezember 1939 wegen erwiesenen Betruges zu 2 V2 bis 5 Jahren "Sing Sing" und zum Verlust der Bürgerrechte verurteilt worden. Ein Mann mit diesen moralischen Qualitäten war jahrelang der "Führer" des "Amerikadeutschen Bundes". Dieser Bund ist die Ver- einigung der Nazis in Nordamerika. Die DEUTSCHEN Nordamerikas sind im "DEUTSCH-AMERIKANI- SCHEN KULTURBUND" zusammengeschlossen, einer Organisation, die zur Zeit mehr als 100.000 Mitglieder umfasst. In Argentinien und den anderen südamerikanischen Staaten kämpft für Sturz und Beseitigung der Hitleristen: "DAS ANDERE DEUTSCHLAND" 11 Wie steht es um die deutsche Jugend? Ein Aufsatz, den Anna Biemsen unter der Ueberschrift "Deutsche Jugend" kürzlich veröffentlicht hat, kommt am Schluss zu folgendem Resultat: Wir haben gezeigt, wie durch Versagen, Verworrenheit und Schwäche der Erwachsenen die Jugend in eine Situation der Ratlosigkeit geriet, wie sie sich selber in die verantwortungslose Romantik der "Jugendbewegtheit" flüchtete, soweit sie bürgerliche Jugend war, oder einfach der Gleichgül- tigkeit, im schlimmsten Falle dem Karrieremachen verfiel. Das Hitlerre- gime hat sich mit unbegrenzten Mitteln und unbegrenzter Skrupellosig- keit bemüht, diese preisgegebene Jugend zu bilden nach dem Bild des Führers, nach seiner hochmütig-verlogenen Vorstellung von nordisch- deutscher Vollkommenheit. Wir kennen dieses Bild des zugleich brutalen und feigen, zugleich überheblichen und untertänigen Pg., dem jeder Sinn für Wahrheit, Recht und Grossmut ausgetrieben ist, der gelernt hat, vor dem Vorgesetzten stramm zu stehen und den Untergebenen zu treten, der ebenso verlogen ist wie unwissend, dem die Verachtung für mensch- liche Vernunft, Sittlichkeit und Kultur als Vorzug erscheint und der nur noch auf die gröbsten Reize der Sinnlichkeit, der Gier und des Macht- triebes reagiert. Wir kennen dieses nihilistische Gangstertum aus seinen eigenen Bekennt- nissen ebenso wie aus seinen Taten. Steht es so, dass die ihm augeliefer- te deutsche Jugend wirklich nach diesem Bilde geformt ist? Die Frage stellen, heisst fragen danach, wie weit die menschliche Natur sich kor- rumpieren lässt. Zweifellos ist der Einbruch weitgehend geglückt. Nicht nur die Tatsachen, die durchsickern über Gewalttätigkeit und sittliche Verwilderung wie über die zunehmende geistige und wissenschaftliche Verwahrlosung der Ju- gend, sind eindeutig, auch die persönlichen Erfahrungen, die man hier und dort macht, sind überzeugend. Es ist ein schwer gefährdetes und ge- fährliches Geschlecht, das da heranwächst, und es wird lange währen, bis die Spuren dieser furchtbaren Jahre ausgetilgt werden können. Ich stehe nicht an, diese Verwüstung für schlimmer zu halten als jede ande- re und die deutsche Jugend für beklagenswerter als die Opfer der Bom- benflieger. Tod ist ein besseres Los als sittliche Perversion. Dennoch aber haben wir keinen Anlass, bei allem bitteren Selbstvorwurf, den sich jeder Deutsche machen muss, der nicht bis aufs Letzte diese Verwüstung be- kämpft hat, hoffnungslos zu sein. Der völligen Verderbnis stehen drei Dinge entgegen: die Gegenwirkung der Tatsachen, die stille Gegenwir- kung der Menschen, die in Opposition stehen, und endlich die Gegenwir- kung der gesunden menschlichen Natur. Alle drei wirken verschieden stark nach Umwelt und Veranlagung. Ihre Wirkung wächst mit der steigenden Flut der Opposition, mit dem begin- nenden, heute schon sich abzeichnenden Misserfolg, mit der Möglichkeit einer neuen Zielsetzung und Aktivität. Die Verantwortung, die auf uns liegt, ist gewaltig. Wenn wir diesmal wieder wie 1918 und in der ganzen Zeit der Weimarer Republik versagen, als Politiker, als Sozialisten, als verantwortliche Führer zu sittlicher Erkenntnis und vernünftigem Han- deln, so werden wir mit dieser schon so schwer geschädigten Generation 12 Es geht durch alle fünf Kontinente ... Es geht durch edle fünf Kontinente, es geht um die Erde ein einziger Schrei, es strömt aus allen Ländern der Erde, es strömt eine Welt von Empörten herbei: Rettet den Menschen, rettet den Menschen, rettet die Welt vor der Barbarei! Sqhon hat man viele der Besten erschlagen, und immer noch geht die grausame Zeit, verfolgt und geächtet die edelsten Geister, die Jugend Europas dem Tode geweiht: Rettet den Menschen, rettet den Menschen, rettet die Welt vor der Barbarei! Es kommt eine letzte, grosse Entscheidung, es kommt das Ende der grossen Nacht, dann richten sich auf, die man beleidigt, dann wird in Europa Geschichte gemacht: Rettet den Menschen, rettet den Menschen, rettet die Welt vor der Barbarei! Aus "Jemand", von Hans Zahl. dem Untergang verfallen. Hier sich auf die Zwangsläufigkeit der Ent- wicklung verlassen wollen, wäre verantwortungslos, es wäre auch im höchsten Sinne unmarxistisch. Nicht die gesellschaftlichen Bedingungen haben zur Preisgabe dieser Jugend geführt, sondern das Versagen der Verantwortlichen, die nicht ih- rem gesellschaftlichen Bewusstsein gemäss, also vernunftgemäss, sondern mit Ausweichen vor den deutlich gestellten Aufgaben reagierten, irrege- leitet durch den Preussennationalismus, der sich der deutschen Arbeiter- bewegung jederzeit so verhängnisvoll erwies und auch heute wieder droht, die vernünftige Lösung nach einem Kriegsende, das Hitler stürzt, zu vereiteln. Wir werden in diesem Falle eine tief ernüchterte und darum für neue Ziele aufnahmebereite Jugend vorfinden. Sie wieder zur Gesundung zu bringen, wird unsere wichtigste Aufgabe sein. Dass es möglich ist, dafür gebe ich drei Beispiele, die ganz wahllos drei Typen der deutschen Jugend herausgreifen. Ein junger Arbeiter, mir persönlich ganz unbekannt, ist in der politischen Arbeit verhaftet, schwer misshandelt und zu mehrjähriger Zuchthausstra- fe verurteilt worden. Er lässt mir durch die Schwester schreiben: "Unser Wahlspruch bleibt immer der gleiche: Uns geht die Sonne nicht unter." Ein aus durchaus bürgerlich-intellektueller Familie stammender, sehr in- telligenter, aber gleichzeitig sehr kindlicher Vierzehnjähriger schreibt aus Anlass eines der grossen Naziwahlmanöver: "Es ist hier unerträglich. Ich flüchte mich vor dem Klamauk in die Stille und tröste mich mit Goethe." Ein ehemaliger Hitlerjugendführer, jetzt junger Emigrant, der schwer nach neuer Erkenntnis und nach einem neuen Standpunkt sucht, fragt heftig 13 und beinahe drohend: "Wenn Sie uns von Sozialismus reden, so wissen Sie doch, dass Sie uns damit zu Kampf verführen, zu Unglück, wahrschein- lich zu persönlichem Misserfolg. Wie können Sie das verantworten?" Ich sage: "Wenn ich von Sozialismus rede, tue ich das aus meiner persönli- chen Ueberzeugung, dass die sozialistische Umgestaltung der Gesell- schaft heute die sittliche Aufgabe ist, die unsere Vernunft von uns ver- langt. Nur das vernünftige Bewusstsein unterscheidet die Menschen vom Tier. Der Mensch aber, der es verleugnet, ist nicht einmal ein Tier, er ist ein verdorbenes Tier. Wie kann ich Sie unter das Tier erniedrigen, indem ich Ihnen nicht zumute, Ihrer vernünftigen Erkenntnis gemäss zu handeln, "ja", sagt er, den man vollgefüllt hat mit Rassen- und anderen Lügen und mit Verachtung der naturwidrigen Vernunft, "ja", sagt er, nachdem er nach gedacht hat, "ja so ist es. Ich hab's erfahren. Danke!" Die deutsche Jugend geht und wird gehen durch eine Feuerprobe. Viel wird dabei vernichtet werden wie Spreu. Ich hoffe aber nicht nur, ich weiss, dass einige sich bewähren werden. Auf ihnen wird die deutsche und auch die europäische Zukunft beruhen. Möchten nur wir ihnen ge- genüber nicht versagen! Hitlers Porträt Gesicht und Kopf schlechte Rasse, Mischling. Niedere fliehende Stirn, un- schöne Nase, breite Backenknochen, kleine Augen, dunkles Haar. Eine kurze Bürste als Schnurrbart, nur so breit wie die Nase, gibt dem Ge- sicht etwas besonderes Herausforderndes. Gesichtsausdruck nicht der eines in voller Selbstbeherrschtheit Gebietenden, sondern der eines wahn- witzig Erregten, ständiges Zucken des Gesichtsmuskeln, am Schluss Aus- druck beglückten Selbstgefühls. Professor Max Gruber, deutschnationaler Rasseforscher. Drei Monate kostenlos zur Probe versenden wir "Das Andere Deutschland" an Adressen, die uns von unseren Abonnenten aufgegeben werden. Benutzen Sie den untenste- henden Schein: 1......................................... 2..................................... 3......................................... 4.......................................... 5.......................................... 6.......................................... Name und Adresse des Abonnenten: 14 Politische Monatsübersicht Wenn man dem Ueberblick über die letz- ten vier Kriegswochen eine Ueberschrift geben will, so lautet sie am besten: Zu- spitzung. Blockadekrieg Da ist zunächst die weitere Verschärfung des Blockadekriegs. Weil der U-Bootkrieg die in Berlin gehegten Erwartungen nicht erfüllt hat, ist Hitlerdeutschland zum Le- gen von Treibminen übergegangen, die wegen ihrer magnetischen Wirkung dop- pelt gefährlich für die gesamte Schiffahrt sind. England und Frankreich sind die Antwort nicht schuldig geblieben, Sie be- schränken sich nicht mehr darauf, Deutschland von seinen Zufuhren abzu- schneiden, sondern beschlagnahmen seit dem 4. Dezember auch alle deutsche Wa- ren, die über neutrale Länder exportiert werden. Durch beide Massnahmen werden die neutralen Staaten schwer betroffen, in erster Linie Holland, Belgien und die nordischen Staaten. Die deutschen Minen machen die Fahrt für ihre Schiffe sehr gefährlich, wie die zahlreichen Schiffs- verluste beweisen. Die Blockadeverschär- fung durch England und Frankreich an- dererseits bringt einen grossen Teil des Verkehrs von Amsterdam, Rotterdam und Antwerpen zum Erliegen. Auch die Ver- sorgung der eigenen Länder mit den Produkten aus Uebersee wird immer schwieriger. Proteste gegen die Ver- schärfungen durch die Alliierten, teils wohl unter deutschem Druck erfolgt, hat- ten von vornherein nur formale Bedeu- tung ohne jede Aussicht auf Erfolg. Bedrohung der Neutralen Immer würgender spürt Deutschland die Wirkung der Blockade. Russland kann nicht, wie man grossprecherisch renom- miert hat, den Ausfall der Einfuhr aus- gleichen, da es die von Deutschland be- nötigten Produkte teils garnicht übrig, teils nicht in hinreichendem Masse zur Verfügung hat, um den Bedarf Deutsch- lands zu befriedigen, und weil die Trans- portmittel nicht ausreichen. Die für die deutsche Einfuhr wichtigsten Balkanstaa- ten, vor allem Rumänien mit seinem Pe- troleum und seinem Weizen kommen den geforderten erhöhten Einfuhren nach Deutschland unter der zahlungskräftigen englisch-französischen Einwirkung nur ungenügend nach. Deutschland beginnt von den aufgestapelten Vorräten zu zeh- ren, ohne dass die Aussicht bestände, sie ersetzen zu können. So wächst die Wahrscheinlichkeit, dass Hitler bald nach irgendeiner Seite los- schlagen wird, um sich Luft zu schaffen. Das ist nach allen Richtungen hin mög- lich, sowohl gegen Holland und Belgien, wie auch nach dem Norden oder nach dem Balkan hin. Finnland und der Norden Die Situation ist durch den Angriff Russ- lands auf Finnland weiter kompliziert und verschärft worden. Die Weltmeinung wendet sich mit gleicher Schärfe gegen Russland wie gegen Deutschland. Es ist noch nicht abzusehen, welche Folgen die Stellungnahme des Völkerbunds gegen Russland haben wird, ob sie ein noch en- geres Zusammengehen zwischen Russland und Deutschland zur Folge haben werden. Es gehen Gerüchte um, die von einer be- vorstehenden gemeinsamen Aktion Russ- lands und Deutschlands in der Ostsee und gegen die nordischen Staaten unter Aufteilung in Interessensphären zu er- zählen wissen. Sie scheinen uns nicht viel Glauben zu verdienen, sind aber bezeich- nend für die gewitterschwangere Atmo- sphäre. Gewitterwolken über dem Balkan Dagegen erhielten die Behauptungen, dass ein gemeinsames Vorgehen der beiden Mächte auf dem Balkan in Aussicht ste- he, eine gewisse Unterstreichung durch den Artikel des Organs der Koyimintern, der die Einbeziehung Rumäniens in die russische Machtsphäre nach dem Muster der baltischen Staaten forderte. Das ist zunächst nur eine für die Sowjetregierung nicht verbindliche Aufforderung oder Warnung an Rumänien, die allerdings ohne Willen und Einverständnis Stalins kaum hätte erfolgen können, obwohl sie nachträglich desavouiert worden ist. Sie braucht erst recht nicht zu bedeuten, dass die Sowjetunion gewillt ist, Hitler- deutschland den Weg an das Schwarze Meer freizugeben. Zweifellos aber recht- fertigt auch der Artikel der "Kommunisti- schen Internationale" die Ueberschrift "Zuspitzung", und das um so mehr, als sich gleichzeitig die Beziehungeen zwi- schen Russland und der Türkei zu ver- schlechtern scheinen, wenn man auch den Meldungen über Truppenanhäufun- gen an der Kaukasusgrenze vorläufig besser Misstrauen entgegenbringt. Die Versuche, die Balkanstaaten zu ge- meinsamer Abwehr des russischen und des deutschen Vordringens zusammenzu- schliessen, dauern an. England und 15 IFrankreich, vor allem aber auch Italien bemühen sich weiter in dieser Richtung. Der Widerstand Rumäniens und auch Jugoslawiens gegenüber den wirtschaftli- chen Forderungen Hitlerdeutschlands zeigt, dass diese Bemühungen erhebliche Erfolge haben. Unklar bleibt die Haltung der beiden revisionistischen Staaten Bul- garien und Ungarn. Ungarn hat aufs neue seine Ansprüche gegenüber Rumä- nien erhoben, gleichzeitig aber setzt es den russischen und den deutschen Ab- sichten Widerstand entgegen. Dieses schwierige Spiel wird der ungarischen Regierung nur dadurch ermöglicht, dass die "Bundesgenossen" Sowjetrussland und Hitlerdeutschland latente Gegner sind und unter der Decke freundschaftlicher Beziehungen überall da gegeneinander arbeiten, wo ihre Interessen sich kreuzen. Holland in Not Am wahrscheinlichsten erscheint noch immer ein Angriff Hitlerdeutschlands auf Holland und Belgien, vor allem weil es hier keine Schwierigkeiten mit Russland gibt, wie das im Norden und Südosten der Fall ist, wo immer die Möglichkeit eines deutsch-russischen Konflikts besteht. Die überraschende Friedensvermittlung der holländischen Königin und des belgischen Königs ist er- folgt, weil schon damals ein deutscher Angriff auf Holland drohte. Er ist wegen des deutlich von Belgien bekundeten Wil- lens sofort an die Seite Hollands zu tre- ten und gemeinsam den äussersten Wi- derstand zu leisten, vertagt worden. Die scharfen 'Warnungen, die zur Zeit, wo dies geschrieben wird, von den deutschen Zeitungen an die Neutralen, vornehmlich ber an die holländische Adresse gerich- tet werden, ihre "Neutralität", d. h. eine Deutschland begünstigende Neutralität gegen England und Frankreich aufrecht- zuerhalten, lassen befürchten, dass es in Kürze mit der Invasion in Holland ernst werden könnte. Das würde den Versu- chen einer deutsch-englischen Verständi- gung mit der Spitze gegen Russland ein Ende bereiten, es würde aber auch Deutschlands Stellung gegenüber Russ- land noch weiter schwächen, da es den Landkrieg gegen die Westmächte ernst- haft in Gang bringen und alle Anstren- gungen und Kräfte Hitlerdeutschlands im Westen beanspruchen würde. Mussolini in der Klemme Was Italien angeht, so muss Hitler nun- mehr wohl jede Hoffnung auf eine ernst- hafte Unterstützung durch Mussolini be- graben. Mussolinis Ansprüche auf die Rolle eines Schiedsrichters, zu welcher die Macht Italiens nie ausgereicht hätte, sind durch die Dinge, vor allem durch den russischen Vormarsch endgültig ge- scheitert. Italiens Politik befindet sich deshalb in voller Umorientierung. Nicht nur die Balkanpolitik beweist das, auch die De- mobilisierung von 300.000 Mann, die Frankreich die Zurückziehung starker Truppenkontingente von der italienischen Grenze ermöglicht hat, deutet in dieselbe Richtung und ebenso die Hinnahme der englischen Blockademassnahmen, die An- griffe auf Russland und die Gesamthai- tuiig der italienischen gleichgeschalteten Presse. Wahrscheinlich wird Mussolini sich in absehbarer Zeit veranlasst sehen, ins Lager der Westmächte überzugehen, ohne dass diese seinen Erpressungsver- suchen alzu sehr nachgeben müssten. An diesen Feststellungen dürften die Reden im Grossen Faschistischen Rat kaum etwas ändern. Das Münchener Attentat Auch das Münchener Attentat beweist die Zuspitzung der Dinge, diesmal derje- nigen im Innern Deutschlands. Niemand in der Welt hat dem plumpen Schwindel über die Anzettelung des Attentats durch den englischen Geheimdienst Glauben ge- schenkt. Dagegen ist es wahrscheinlich, dass das Attentat mit den Bemühungen englischer und deutscher reaktionärer Kreise zusammenhängt, die nach dem Sturz Hitlers ein militaristisch-reaktionä- res Deutschland erhalten wollen, das dann bereit wäre, wieder als englischer Degen in Europa und als Bollwerk nicht nur gegen den Bolschewismus, sondern auch gegen jeden sozialen und politischen Fortschritt in Europa zu funktionieren. Das Gelingen dieser Pläne würde die Nie- derlage Europas in diesem Kriege und die trostlosesten Zukunftsperspektiven bedeu- ten. Wir glauben nicht an die Realisie- rungsmöglichkeiten dieser Machenschaf- ten. Sie geben aber möglicherweise die Erklärung für das Münchener Attentat. Es könnte sein, wenn auch die Begleit- umstände, insbesondere die wunderbare Rettung aller halbwegs prominenten Nazis durch die göttliche Vorsehung, dagegen sprechen, dass das Attentat von der eng- landfreundlichen und antibolschweisti- schen Richtung ausgeht, die auch Go- rma: umfassen soll. In diesem Zusammen- hang sei auf die kaum beachtete Tatsa- che hingewiesen, dass der frühere hitler- freundliche Berichterstatter des "Daily Mail" Ward Price in für Deutschland bestimmten Radiosendungen Hitler und 15 Ribbentrop heftig angegriffen, Göring aber gelobt hat! Wahrscheinlicher ist, dass das Attentat von der nächsten Umgebung Hitlers aus- geht, um das Spiel der Englandfreunde zu durchkreuzen, indem man England der Urheberschaft beschuldigte und so al- le Englandfreunde diskretitierte. Dem gleichen Ziel dient die wilde Englandhet- ze der deutschen Presse. Jedenfalls hat das Attentat die weitere Zuspitzung der schon durch den Mord an Fritsch charakterisierten inneren Span- nungen des Hitlerregimes grell beleuch- tet. Die Flucht Thyssens und der Alarm- artikel des prominenten Wirtschaftsfach- mannes Helfferich sind weitere Anzeichen dafür. Terror in der Tschechoslowakei und in Polen Nur durch den zügellosesten Terror wer- den die Nazibarbaren der unterjochten Tschechen und Polen Herr. Die Massen- erschiessungen und Verhaftungen der tschechischen Studenten, die unbeschreib- lichen Greuel in Polen legen ein ebenso beredtes wie furchtbares Zeugnis ab von den Schwierigkeiten, denen Hitler hier begegnet. Es ist zu befürchten, dass der Hass, der hier gesät wird, sich später aufs schwerste an dm Deutschen rächen wird, nicht nur an den Verbrechern, für die es keine Grade geben darf und geben wird. Durch das gemeinsame Schicksal werden endlich Tschechen und Polen zusammen- geschmiedet. Die tschechische und polni- sche Regierung, die in Frankreich gebil- det worden sind, arbeiten in engstem Einvernehmen. Damit wird die verbreche- rische Politik der korrupten polnischen Oberstenregierung liquidiert und ein für die europäische Entwicklung hoffnungs- volles neues Kapitel aufgeschlagen. Chamberlain und Daladier Zu den schwer begreiflichen Tatsachen dieses Krieges, gehört es, dass die Män- ner, die Spanien und die Tschechoslo wa- kei geopfert und durch ihre von bornier- tem Klasseninteresse diktierten Kapitu- lationen Hitler zu seinem Vorgehen er- mutigt haben, noch immer an der Spitze Frankreichs und Englands stehen. Die furchtbare Bedrohung durch das waf- fenstarrende Hitlerdeutschland ist zwei- fellos der Grund dafür, dass die weitesten Kreise in Frankreich sich hinter die Re- gierung Daladier gestellt haben. Aber es wird immer deutlicher, dass Daladier un- ter dem Motto der nationalen Einigkeit seinen durchaus reaktionären Kurs weiter steuert. Er ist augenscheinlich froh, die Kommunisten wegen ihres Eintretens für die russisch-deutschen Friedensparolen rücksichtslos verfolgen zu können. Be- zeichnender noch ist, dass alle Deutschen, die irgendwie linker, nicht etwa kommu- nistischer Orientierung verdächtig sind, nun schon seit drei Monaten interniert sind, unter ihnen viele Schriftsteller mit klingendem Namen. Dagegen scheinen sich die Anhänger der habsburgischen Monarchie weitgehendster Freiheit nicht nur persönlich, sondern auch in ihrer politischen Betätigung zu erfreuen. In dem Moment, wo Frankreichs grosse europäische Aufgabe der Schaffung der Vereinigten Staaten Europas erneut auf die Tagesordnung der Geschichte gestellt ist, steht ein kurzsichtiges, engherziges, reaktionäres Kabinett an der Spitze Frankreichs. Die Ablehnung der Diktatur- vollmachten Daladiers durch die Soziali- sten zeigt, dass man auf der französi- schen Linken die Gefahren zu begreifen beginnt, die das Kabinett Daladier für Frankreich und Europa bedeutet. Die Kriegsziele, die Leon Blum kürzlich na- mens der französischen Sozialisten pro- klamiert hat, deuten in dieselbe Rich- tung. Aehnliches gilt für die Regierung Cham- berlain, in der Churchill und Eden kein genügendes Gegengewicht gegen die Pro- faschisten bilden. Auch hier beweist die oppositionelle Stellung, die die Labouristen im Unterhaus bezogen haben, dass die Unterstütung der Kriegführung durch sie nicht den Burgfrieden mit der reak- tionären Regierung bedeutet- Die innere Entwicklung in Frankreich . und England ist von allergrösster Wich- tigkeit. Man darf hoffen, dass die Regie- rungen Daladier und Chamberlain den Krieg nicht überleben werden. Komme HEUTE zu uns, MORGEN, nach dem Zu- sammenbruch des Dritten Reiches, wird es schwer sein, Dir zu glauben, dass Du niemals Nazi warst. 17 Stimmungsbarometer Die letzte Nummer, die mit vergrößer- tem Inhalt und in neuem Zeitschriften- format erschien, hat die begeisterte Zu- stimmung aller unserer Freunde gefun- den. Obwohl die Auflage erheblich ver- stärkt wurde, war die Novembernummer bald vergriffen. Der Verkauf an Zeitungs- ständen, der in Buenos Aires, Santiago de Chile und verschiedenen Städten Bra- siliens eingeführt worden ist, hat sich be- währt und wird intensiviert werden. Eine grosse Zahl von Lesern — es sind die, die begriffen haben, dass wir Wert darauf legen, mit jedem Abonnenten in persönlichen Kontakt zu kommen und aus jedem Leser einen Kämpfer für unsere Idee zu machen — haben uns ihre Zu- stimmung in ihren Briefen zur Kenntnis gebracht. Statt vieler sei hier nur ein kurer Teil eines Briefes aus Rosario wie- dergegeben, in dem es heisst: "Ich teile Euch mit, dass ich im allgemeinen Eure Ansichten teile. Die Novembernummer ist besonders hervorragend." Eine Anzahl von Nachbestellungen konnten leider nicht berücksichtigt werden; wir hoffen aber, dass wir dieses Mal allen Anforde- rungen gerecht werden können. —o— DAS ANDERE DEUTSCHLAND wird in Nazikreisen eifrig gelesen. Ein echter Hit- lerjüngling schickte uns — natürlich ano- nym — die Zeitung zurück und versah sie mit dem folgenden, erbaulichen Gedicht: "Der Jude hat ein Schwein geschlachtet in dem Tempel Moses, hats gegessen, hats gefressen und hat die Gabel im Arsch vergessen." Anschliessend findet sich die schöne Be- merkung: "Passt auf, ihr Juden, dass ihr von Argentinien nicht fliegt!!!" Kein Wunder, dass die Argentiner einmütig die Nazi-Kulturträger ablehnen, wenn sie in solch drastischer Weise wie in obigem Gedicht Proben ihrer moralischen Ver- kommenheit geben. —o— Sonderbar, dass die Nazis hierzulande uns immer noch damit tötlich zu treffen mei- nen, dass sie uns Juden schimpfen. Selbst wenn dieser plumpe Schwindel stimmte, welches Recht haben heute eigentlich die Jünger Hitlers noch, einen Juden zu be- schimpfen? Sie selbst loben ja heute, bloss um Stalin nicht zu erzürnen, den "verjudeten Bolschewismus" bis über die Hutschnur, so sehr, dass es z. B. einem ihrer Freunde von ehedem, "La Fronda" geheissen, zu bunt wurde und diese Zei- tung in einem geharnischten Artikel ge- gen die Lappentante zu Felde zog, in dem dem Goebbelsblatt nicht mehr und nicht weniger vorgeworfen wurde, als dass es die argentinische Souveränität mit Füssen trete. Im übrigen verweisen wir auf die in dieser Nummer abgedruckten Erklä- rungen, die Hitler in "Mein Kampf" ge- gen das "verjudete Russland" abgegeben hat. Man soll sie heute jedem Nazi stück- weis um die Ohren hauen. Eine schallende Ohrfeige haben sich die chilenischen Nazis geholt. Einige der ih- ren, Albert Stanke, Erwin Storandt, Ernst Hänsgen, August Siebrecht, Ernst Go- verts, Hans Kühl, Karl Schneider, Wer- ner Sierung, Harald Wulff und Alex von Wachold, hatten die in der Presse des demokratischen Chile noch immer existie- rende Pressefreiheit benutzt, um in einer Zuschrift an die Zeitung "El Mercurio" gegen einen Leitartikel zu polemisieren und Propaganda für den Fiehrer zu ma- chen. Die Leitung von "El Mercurio" druckte den Schrieb ab. Sie liess es sich aber nicht nehmen, die Einsendung der Nazis in einem neuen Leitartikel in fol- gender, treffenden Weise zu kommentie- ren: "Wir betonen", heisst es in "El Mercurio" am 6. 11., 'dass für Chile die Notwendig- keit besteht, sich im gegenwärtigen eu- ropäischen Konflikt neutral zu verhalten. Aber das bedeutet nicht, dass wir auf das Recht verzichten, das zu kommentieren, was in Europa vorgegangen ist und vor- geht. Wir Chilenen haben für die Deut- schen, die zum Fortschritt unseres Vater- landes beigetragen haben, eine nicht we- niger grosse Sympathie als für die Eng- länder und Franzosen, deren Beitrag si- cherlich nicht geringer ist. Wir anerken- nen, was die Welt diesen drei grossen Völkern schuldig ist, was sie für die Aus- breitung der Wissenschaften, 'die Ent- wicklung der Industrie, der Kunst und der Literatur getan haben, und wir ma- chen keinerlei Unterschiede noch Wert- abstufungen zwischen ihnen." "El Mercurio" hat nur die unleugbare Tatsache kritisiert, dass Deutschland Ab- kommen wie das von München gebrochen hat, die ihm keineswegs wie der Vertrag von Versailles von Siegern auferlegt, son- dern die aus freien Stücken abgeschlossen wurden, und deren Bruch in offenem Wi- derspruch zu den feierlichen und sponta- nen Erklärungen des "Führers" steht, dass er keinerlei teritoriale Ansprüche mehr in 18 Eurapa habe. Die Methode der Ueberfälle und des Ultimatums zur Lösung interna- tionaler Konflikte kann in Chile und al- len amerikanischen Staaten nur schärf- ste Missbilligung finden, denn sie haben eine diametral entgegengesetzte Auffas- sung von internationalen Beziehungen. Die auf München folgende Zerstörung der Tschechoslowakei und Polens kann nicht damit entschuldigt werden, dass es sich darum gehandelt habe, "Volksdeut- sche" der deutschen Volksgemeinschaft einzugliedern. "Schwache Länder wie Chile haben keine andere Verteidigung als die Achtung vor dem Recht. Wir können die Reihe der hit- lerschen Unternehmungen, die aus- schliesslich auf Gewalt und Macht aufge- baut sind, nicht gleichgültig hinnehmen." —o— Obwohl "El Mercurio" ein durchaus bür- gerliches Blatt ist, das lange Zeit bei- spielsweise den Naziumtrieben in Chile ; ohr nachsichtig gegenübergestanden hat, können wir nicht umhin, ihm unseren vollen Beifall zu zollen. Wir sind ihm besonders dankbar, dass es einen deutli- chen Trennungsstrich zieht zwischen Deutschland und dem Dritten Reich und nicht die Verbrecher Hitlers dem ganzen deutschen Volke zur Last legt. •—o— Aus Brasilien, wo die Zahl unserer Freun- de ständig wächst, erreicht uns der fol- gende Brief: "Lange genug habe ich jetzt und in früheren Jahren hier meinen ei- genen Kampf gegen die Parteideutschen, die jeden Betrug als ihr Recht und ihre Gesinnungstüchtigkeit als Patriotismus drehen können, geführt. Es ist fast un- glaublich, aber doch Tatsache, dass man als Deutscher im neutralen Brasilien sich nicht halten kann, wenn man weiter nichts will, als durch Arbeit seinen Le- bensunterhalt verdienen, aber politisch selbstdenkend und wahrheitsliebend ist. Solche Macht übt hier die verbotene Na- zipartei heute noch aus." Diesen Einfluss zu brechen, ist eine der Aufgaben, die un- sere Freunde in Rio de Janeiro und an- derswo sich gestellt haben. Einer unserer Freunde in Bolivien — er ist mehr als 60 Jahre alt, aber an Kampf- geist jünger und ungebrochener als man- cher aus der HJ. — hat der als "Reichs- deutsche Gemeinschaft" getarnten Hit- lerfiliale seines Ortes folgenden Brief zu- geschickt: "Das Ansuchen, der Reichs- deutschen Gemeinschaft beizutreten, be- dauere ich ablehnen zu müssen. Von dem Grundsatz ausgehend, dass deutsch sein wahr sein heisst, und an das von dem Gauleiter der Auslandsorganisation ver- kündete Dogma anknüpfend, dass Aus- landsdeutsche eo ipso Nationalsozialisten seien, muss ich es bei meiner, der natio- nalsozialistischen diametral entgegenge- setzten, politisch-religiösen Weltanschau- ung grundsätzlich ablehnen, einer Ge- meinschaft beizutreten, die mich gege- benenfalls auf höheren Befehl hin glaubt zwingen zu können, heute etwas zu ver- brennen, was ich gestern noch angebetet habe oder meine Gesinnung zu wechseln wie ein Hemd. Für Gesinnungsakroba- ten aber dürfte in den Reihen einer wirklich deutschen Gemeinschaft kein Platz sein. Wie immer in meinem Leben wird man mich auch heute jederzeit be- reit finden, die Folgen meiner Handlungs- weise voll und ganz auf mich zu nehmen." Solange es Leute dieses Schlages in und ausserhalb Deutschlands unter uns gibt, darf Herr Hitler gewiss sein, dass sein Drittes Reich nicht tausend Jahre alt wird. Eine Anzahl Zuschriften beschäftigen sich mit unserer Haltung "zu den politi- schen Tagesfragen. In einer davon heisst es: "Ich mache kein Hehl daraus, zuzu- gestehen, dass ich mit Ihrer Politik dem Hitler-Stalinpakt gegenüber nicht über- einstimme . Aber ich bin der Meinung, dass es in der antifaschistischen Bewe- gung notwendigerweise Meinungsverschie- denheiten geben muss und geben darf. Sie sind nur ein Zeichen geistiger Reg- samkeit. Als konsequente Tyrannengegner müssen wir alle Meinungsverschiedenhei- ten unter uns äusserst tolerant ausma- chen. Wäre dem nicht so, hätte die ganze antihitleristische Bewegung keine Exi- stenzberechtigung." Die Toleranz, von der unser Freund spricht, ist für uns nicht nur aus prinzi- piellen Gründen ein Erfordernis. Da DAS ANDERE DEUTSCHLAND der Sammelpunkt aller Hitlergegner ist, be- steht schon aus diesem Grund für uns die Notwendigkeit, uns nicht dieser oder je- ner Partei zu verschreiben. Die Plattform, auf der wir alle, so verschieden unsere Ansichten auch sein mögen, uns treffen können und müssen, _ ist die in den vori- gen Nummern entwickelte: Gut ist» was Hitler schädigt und zu seinem Sturze bei- trägt. Schlecht ist, was Hitler nützt. Von dieser Maxime aus haben wir auch Pa- rolen der verschiedenen Parteien zu be- und gegebenenfalls zu verurteilen. 19 Neues Deutschtum Otto Lehmann-Russbüldt, der Verfas- ser des verdienstlichen Buches über "Die blutige Rüstungsinternationale", hat schon vor dem Beginn des Krieges und der Debatte über die Kriegsziele in einer in den "Editions Nouvelles Internationa- les" Paris unter dem Titel "Neues Deutschtum" erschienen Broschüre die Frage aufgeworfen, was die antifaschisti- schen Deutschen für die unausweichliche grundsätzliche Neuordnung Europas lei- sten können, bezw. worin die deutsche Aufgabe für die Bildung des kommenden Europa besteht. Er meint, dass die verhängnisvolle preussisch - militaristische Entwicklung Deutschlands in der Hitlerdiktatur ihren furchtbaren Höhepunkt erreicht hat, dem die Vernichtung folgen muss und wird' Die Wiedererstehung eines neuen Gross- preussens muss unbedingt verhindert werden. Deutschland im Sinne der histo- rischen Fehlentwicklung, die über Fried- rich den Grossen, Bismarck, Wilhelm II. ins Dritte Reich geführt hat, muss nach dem neuen Weltkrieg endgültig ver- schwinden. Aber Lehmann-Russbüldt redet damit keineswegs einem Rachefrieden das Wort, der das Gegenteil von dem erreichen müsste, was er wollte. Er meint vielmehr, das alte militaristisch-imperialistische Auflösung in verschiedene Wirtschafts- Deutschland müsse — am besten unter gebiete verschwinden, um in Europa auf- zugehen, wie in Zukunft auch die übri- gen europäischen Länder ausser England und Russland, die eigene grosse Reiche Aufgabe des neuen Deutschtums sei es, bilden, in Europa aufzugehen hätten. Die bewusst das wirtschaftliche und soziale Ferment dieses neuen Europa und zu- gleich die Brücke zwischen England und Russland zu bilden. Ein Krieg zwischen diesen beiden Grossmächten würde zur Vernichtung Europas führen. Es ist das Verdienst Lehmann-Russ- büldts, nachdrücklich zu betonen, was in der derzeitigen Diskussion über die Kriegsziele zumeist nicht oder doch nicht mit genügender Klarheit erkannt wird, dass es nämlich in der heutigen europäi- schen Situation gar keine isolierte deut- sche Frage mehr gibt, dass heute vielmehr deutsche und europäische Fragen zu- sammenfallen, d. h., dass die Neuord- nung Deutschlands nur im Rahmen der Neuordnung Europas möglich ist. Im Unterschied zu manchen Anhän- gern der Vereinigten Staaten Europas erkennt Lehmann-Russbüldt die grundle- gende Bedeutung der wirtschaftlichen und sozialen Frage für den Neuaufbau Europas. Er schreibt darüber: "Es genügt nicht, für Europa als selbst- verständlich zu fordern: Zoll-Union, Post- Union, Münz-Union, Verkehrs-Union, eu- ropäisches Bürgerrecht. Vielmehr muss es absolut deutlich gemacht werden, dass die Durchsetzung dieser Selbstverständ- lichkeiten nur möglich ist, wenn der Mo- nopolkapitalismus an Grund und Boden und an den natürlichen Schätzen der Erde abgeschafft ist, und wenn darüber ninaus auch der Staat nicht zu einem Generalkapitalisten gemacht ist. In ir- gendeiner Weise muss die Organisation der in einer Produktion Tätigen die ad- ministrative und ökonomische Gewalt über den Betrieb ausüben." An anderer Stelle schreibt er zusammen- fassend: "Das Deutschtum muss diese Umwand- lung voraussehen. Darin wird sich seine Wiedergeburt als tatsächlich erweisen, dass es seine weltgeschichtliche Mission darin erblickt, in dieser kritischen Stun- de zu dieser Umwandlung auf dem eu- ropäischen Kontinent das Wesentliche beizutragen. Dieses Wesentliche besteht darin, von vornherein die Wiederherstel- lung eines politischen Gebilde Deutsch- land in irgendeiner Form der Vergan- genheit nicht anzustreben, sondern von vornherein auf eine Form der politischen Gestaltung in Europa Kurs zu nehmen, die sich aus dem Völkergemisch im Osten Europas, aus der Verschiedenheit der deutschen Stämme und aus der Notwen- digkeit ergibt, eine den Ländern in Eu- ropa übergeordnete Föderation zu errich- ten. Diese Föderation oder Union oder Eidgenossenschaft Europa muss neben einheitlicher Administration in den Hauptverwaltungszweigen moderner Zi- vilisation auf föderativer Basis eine Planwirtschaft der natürlichen Reichtü- mer organisieren." Und er schliesst: "Der in dieser Schrift entwickelte Gedan- kengang setzt voraus, dass es ein Deutsch- tum gibt oder geben kann, das die ihm von der Geschichte gestellte Aufgabe lei- stet. Ein solches Deutschtum ist nicht da. Ob in den vorhandenen Deutschen (d. h. den nicht verpreussten und nazistisch verseuchten Deutschen) in- und ausser- halb Deutschlands die Vitalität vorhan- den ist, die die Kräfte zu einer solchen Leistung freimacht, wissen wir nicht. Nur die Geschehnisse werden es erweisen. 2.0