y Das Andere Deutschland (LA OTRA ALEMANIA) Periödico Aleman Independiente BUENOS AIRES, 15. APRIL 194C JÄHEGANG HI — Nr. 25 EINZELNUMMER 20 CENTAVOS JÄHBESABONNEMENT: 2 PESOS Europa in Flammen DIE EREIGNISSE UEBERSTUERZEN SICH Während unsere Politische Monatsübersicht gerade gesetzt wurde, waren die Kriegs- und Transportschiffe Hitlers bereits auf der Fahrt nach Nor- wegen, marschierten die Nazitruppen schon gegen Dänemark. Was wir über die Vorgänge der letzten vier Wochen geschrieben hatten, ist über- holt, und die Perspektiven, die wir aufgezeigt hatten, sind schneller Wirk- lichkeit geworden, als wir selbst es glaubten. Wir hatten gesagt, dass man für dieses Frühjahr mit der Intensivierung und der weiteren Ausbreitung des Krieges zu rechnen habe. Wir hatten dafür angeführt: 1. Reynaud und Churchill, die unentwegten Gegner der verhängnisvollen Münchener Politik, an den entscheidenden Stellen Frankreichs und Eng- lands, den Willen zu energischerer Kriegführung verkörpernd; . 2. die Verschärfung der Blockade, die Hitler zu Gegenmassnahmen zwin- gen müsse; • 3. die immer sichtbarer werdende Unmöglichkeit einer wirklichen Neutra- lität. Ueber Nacht ist nun das erste Stadium des Krieges, der nur diplomatische und ökonomische Krieg, durch den vollen Krieg ersetzt worden, der sich voraussichtlich schnell zum totalen Krieg entwickeln wird. (Fortsetzung nächsto Seite). ilj-i Wie ist der erste Akt dieser neuen Kriegsphase, die Besetzung Dänemarks und der norwegischen Häfen, zu beurteilen? EIN ERFOLG HITLERS Auf den ersten Blick stellt sich der Blitzkrieg gegen Skandinavien als gro- sser Erfolg Hitlers dar. Dass Hitler in der Lage war, Dänemark in dem Mo- ment, den er für geeignet hielt, zu besetzen, das stand allerdings von vor- neherein ausser Zweifel. Aber es ist schwer zu verstehen, dass die Lan- dung der Hitlertruppen in allen wichtigen norwegischen Häfen — voraus- gesetzt, dass die Nachrichten stimmen —■ binnen wenigen Stunden gelin- gen konnte, ohne dass die englische Kriegsflotte in der Lage war, das zu verhindern. Das ist ein überraschend grosser Erfolg der deutschen Blitzstra- tegie. Besonders erstaunlich ist es, dass sogar der nördliche Hafen Nar- vik, der Endpunkt der von den schwedischen Erzminen kommenden Bahn- linie, schon in den Händen der Nazis sein soll. Im Besitz Dänemarks stehen Deutschland die Produkte der hochentwik- kelten dänischen Viehwirtschaft zur Verfügung, die nicht mehr den eng- lischen Frühstückstisch verschönern werden. Von Dänemark aus be- herrscht Hitlerdeutschland völlig die Einfahrt in die Ostsee, da deutsche Geschütze von dort aus bequem nach Schweden hinüberschiessen kön- nen. Endlich haben die deutschen Flugzeuge eine bessere Basis für ihre Angriffe gegen England gewonnen. Wenn die Nazis im Besitz der norwegischen Häfen bleiben sollten, so könnten sie den ganzen skandinavischen Handel monopolisieren. Sie brauchten nicht einmal Schweden zu besetzen, um seinen ganzen Handel vom offenen Meer abzuschneiden und ihn nach der Ostsee zu lenken. Sie kennten ferner von den norwegischen Häfen aus die englische Schif- fahrt im Norden schwer bedrohen. WAS TUT STALIN? Das sind gewiss gewaltige Erfolge. Sie sind aber, soweit es sich nicht um Dänemark handelt, nur zu verwirklichen im Einverständnis mit Stalin. Ob dieses Einverständnis besteht, wissen wir nicht. Dass die Stalinsche Politik keinerlei moralische Skrupel kennt, lässt mit einer solchen Möglichkeit rechnen, aber die ungeheuere Gefahr, die eine Beherrschung Skandina- viens und der Ostsee durch Hitler für Russland bedeuten würde, macht ein solches Einverständnis nicht gerade wahrscheinlich. Die nächsten Wo- chen oder gar Tage werden darüber Auskunft geben. Wenn Hitler nicht die Einwilligung Russlands zu seinem Vorgehen hat, so ist mit einem Er- folg der GEGENAKTION DER ALLIIERTEN zu rechnen. Die englische Flotte müsste in der Lage sein, die deutschen Landungstruppen von Zufuhren und Nachschub abzuschneiden. Damit ergäbe sich die Möglichkeit, dass sie von den norwegisch-englischen Streitkräften vernichtet würden. Schweden wird sich dem Konflikt nicht mehr fern halten können. Vielleicht sind in diesem Moment bereits Nazitruppen in Schweden ausgeschifft, vielleicht befindet sich Schweden schon im Krieg mit Hitlerdeutschland. 2 Damit wüchse die WahrscheinÜchkeit, dass gemeinsame schwedisch-nor- v/egisch-englische Aktionen Hitlerdeutschland vom Bezug des schwedi- schen Erzes abseihneiden und damit Hitler einen tödlichen Schlag verset- zen könnten. Aber wie gesagt, das hängt in hohem Masse von der Haltung Stalins ab. Wenn Stalin auch diesmal wieder Hitler unterstützt, wären die Chancen einer gemeinsamen Aktion der Engländer, Schweden und Nor- weger zum mindesten weit geringer, , ^ DIE MORAL DER GESCHICHTE Faschisten und Stalinisten haben bis gestern in trautem Verein England aufs schwerste angegriffen und beschimpft, dass es die Rechte der Neu- tralen mit Füssen trete und sie gewaltsam in den Krieg hineinziehen wolle. Heute hat Hitler nach Oesterreich, der Tschechoslowakei und Polen zwei weitere Länder überfallen. Kopenhagen und Oslo sind von Nazitruppen besetzt. Wieder wird der Welt gezeigt, dass in Deutschland eine gemein- gefährliche Bande an der Spitze steht. Niemand sollte sich allerdings dar- über wundern, denn Hitler und die Nazis haben sich wahrhaftig rückhalt- los genug zur brutalen Gewalt bekannt, haben deutlich genug ihren Wil- len zur Beherrschung der Welt, zur Versklavung der andern Völker aus- gesprochen. Man darf gespannt sein, ob nicht nur die Faschisten, sondern auch die Stalinisten Hitler belobigen werden, dass er Dänemark und Schweden "vor den Angriffen der Engländer gerettet" hat, indem er so gütig war, sie unter sein Protektorat zu stellen und Norwegen sogar mit Bombardement und Krieg zu diesem Glück zu zwingen. Für jeden ehrlichen Menschen sollte hier jeder Zweifel und jede Diskus- sion aufhören. Es handelt sich um nackten, brutalen Ueberfall, der mit keinerlei Redereien und Lügen umgefälscht werden kann. Zugleich muss aber auch gesagt werden, dass die ''Münchener" einmal mehr die Früchte ihrer Politik ernten. Wer zugesehen hat, wie Abessynien und Albanien abgewürgt wurden, wer Oesterreich in Hitlers Klauen fal- len liess, wer, die Tschechoslowakei ausgeliefert hat, wer assistiert hat, als Hitler und Mussolini die spanische Republik in Blut erstickten, der darf sich wahrhaftig nicht wundern und nicht beklagen über die Methoden, mit denen Hitler seinen Krieg jetzt gegen sie selbst führt. Es ist gut, dass Da- ladier durch Reynaud ersetzt ist, aber Herrn Bonnet, der bei der Schmach von München Parlament und Volk von Frankreich durch falsche Anga- ben betrogen hat, spielte bis heute in Frankreich seine Intrigantenrolle weiter, und der Regenschirmmann steht noch immer an der Spitze des englischen Kabinetts. ________ _________ DER TOTALE KRIEG ODER DAS VABANQUESPIEL, von Hitler, mit dem Ueberfall auf Skandinavien eröffnet, zwingt jedoch England und Frankreich, endlich Schluss zu machen mit den Halbheiten und dem Klassenegoismus der City- und Clivedenleute und der 200 Fa- milien. Es wird nicht mehr angängig sein, dass das französische Parlament sich mit kleinlichsten persönlichen Kämpfen abgibt, und dass es in Eng- land noch weiterhin über eine Million Arbeitslose gibt, als wenn noch gar kein Krieg wäre. Ebensowenig wird das bisher noch neutrale Europa auf die Dauer neu- tral Bleiben können. Das Schicksal Dänemarks und Norwegens spricht zu deutlich. Würde, weiterhin jeder einzelne kleine Staat zitternd und voller Angst glauben, er könne durch Entgegenkommen gegen die Forderungen Hitlers sich retten, so würde er damit sein eigenes Todesurteil unterzeich- nen: Wenn - die Freilassung der Mitglieder der Mörderorganisation der "Eisernen- Garde" in Rumänien von der Einräumung eines Sitzes in der Regierung etc. gefolgt werden sollte, so würde sich das nun schon so oft von Hitler erfolgreich durchgeführte Spiel vom "trojanischen Pferd" wie- derholen und Rumänien sich selbst der Nazibarbarei ausliefern. Wer Hit- ler den kleinen Finger gibt, ist verloren. "Widerstehet den Anfängen!" — das gilt nirgends mehr als gegenüber den Umgarnungen, der Infiltration, der Zersetzung seitens der Nazis. DIE HiTLERbIKTÄTUR UND DIE NÄZIS WERDEN VERNICHTET WERDEN Trotz der Erfolge im nordischen Blitzkrieg, und auch wenn Rumänien der Hitlerdiktatur erliegen würde, sind wir so fest und unerschütterlich wie je von dem Untergang Hitlers überzeugt. Es gibt für ihn und das Nazisystem keine Rettung. In dem Moment, wo seine Erfolge gefährliche Ausmasse annehmen würden, würden neue Gegner gegen ihn in die Schranken tre- ten. USA rüstet, und es wäre zur Stelle in dem Moment, wo Hitler sich fast zu Tode gesiegt hätte, um den Gnadenstoss zu erteilen. Wahrscheinlich aber wird das garnicht nötig sein. Der totale Krieg, den Hitler, zögernd und' der Not gehorchend, entfesselt hat, um nicht eingeschnürt zu werden, wird voraussichtlich genügen, um die innere Schwäche des scheinbar so starken Gängstersystems zu enthüllen, das Deutschland beherrscht. Viel- leicht kommt der am Ende unvermeidliche Zusammenbruch schneller, als man heute glaubt. Das wird um so eher der Fall sein, je eher sich alle moralischen Kräfte in der Welt zusammenschliessen gegen den Weltfeind Nr. 1, Diplomatie und Diplomaten Wie war es nur möglich, dass eine politi- sche Situation entstehen konnte, die Eu- ropa in jedem Aubenblick in den fürch- terlichsten Krieg stürzen konnte. Niemals waren die Kriegsmacher und die Kriegs- vorbereitungen so offenbar wie seit 1933. Jeder Schritt des Kriegsplans, durch den. das nazistische Deutschland zunächst Deutschland selbst, dann ganz Mitteleu- ropa in eine einzige totalitäre Kriegsma- schine verwandelte, lag klar vor aller Menschen Augen. Und wie war es bei sol- cher Offenheit und Allbekanntheit der systematischen Kriegsvorbereitung mög- lich, dass die bedrohten Mächte gleich- gültig zuschauten, ja den deutschen Mi- litarismus und Imperialismus noch be- günstigen? Ein vor wenigen Monaten in englischer Sprache erschienenes Buch leuchtet in die Rätsel dieser unbegreiflich törichten, selbstmörderischen Politik Eng- lands, Frankreichs und der anderen Mächte hinein. Es trägt den Titel "Meine Jahre in Deutschland" und stammt aus der Feder von Martha Dodd, der Tochter des amerikanischen Gesandten Dodd, der viereinhalb Jahre lang — von 1933 bis Winter 1937 — die Vereinigten Staaten in Berlin vertrat. Der G-eschichtsprofessor Dodd war von Rcosevelt selbst nach Berlin geschickt worden. Da er ein ehrlicher Wissenschaft- ler und Demokrat war und seine diploma- tischen Pflichten sehr gewissenhaft nahm, geriet er imer mehr in Gegensatz zu dem rücksichtslosen Diktaturregiment und der immer offenbareren imperialistischen Ge- waltpolitik Nazi-Deutschlands. Seine Tochter Martha lernte, nachdem ihre op- timistischen Illusionen durch die bruta- len Tatsachen bald zerstört worden wa- ren, die Stellungnahme ihres Vaters be- greifen. Sie wurde im Laufe der vierein- halb Jahre eine immer glühendere Geg- nerin der faschistischen Diktatur und ih- rer machtpolitischen Bestrebungen. Und sie hat jetzt, nachdem ihr Vater auf Drängen des nazistischen Regimentes und seiner plutokratischen Gönner und Ver- bündeten in USA. selbst 1&37 nach Ame- rika zurückberufen worden war, ihr Buch geschrieben, das die Sünden dieser inter- nationalen Plutokratie und der mit ihr versippten internationalen Diplomatie aufdeckt. Durch die ihr genau bekannten Erfahrun- gen ihres Vaters in Berlin und durch ih- re zahllosen eigenen Erlebnisse hat Mar- tha Dodd das Wirken, das Leben und Treiben des ganzen diplomatischen Korps in Berlin gründlich kennengelernt. Nicht aus theoretischem Studium, sondern aus tausendfältiger persönlicher Beobachtung heraus gelangte sie zu der Einsicht, dass die Diplomaten, die Gesandten und Ge- sandtschaftssekretäre im Durchschnitt nichts sind als der Abklatsch und das Instrument der engsten und übelsten Klassenherrschaft, die von den in jedem Lande herrschenden paar tausend reich- sten Menschen ausgeübt wird. Die Gesandten liessen sich von den na- zistischen Führern, ihrem Militär-, Beam- ten-, Presse- und Gelehrten-Apparat um- schmeicheln, fetieren, beschwatzen und derart einseifen, dass sie für alle Gefah- ren für ihre eigenen Länder blind und taub waren. Was kümmerten sie die Greuel der Konzentrationslager, die Morde vom 30. Juni 1934, die immer ungeheuerliche- ren Judenpogrome! Sie liessen sich nur zu gern einreden, dass das notwendig sei, um Deutschland vor der "Bolschewiesie- rung" zu retten. Sie, die diplomatischen Vertreter "demokratischer" Staaten, emp- fanden nichts weniger als demokratisch. Sie fühlten sich selbst als Halbgötter je- ner privilegierten Klasse, die sich über die Landesgrenzen hinweg mit den Gleich-Privilegierten aller Länder verbun- den fühlt. Sie kannten keine "ideologi- schen" Gegensätze ausser Sowjetrussland gegenüber, betrachteten die deutschen N&- fciführer und Offiziere ganz als ihresglei- chen. Denn die höheren Offiziere stamm- ten ja meist aus dem Grossgrundbesitz oder der Grossbourgeoisie, und auch die aus kleinen Verhältnissen aufgestiegenen Nazi-Häuptlinge hatten es rasch zu Be- sitz und Luxus gebracht und verstanden die Feste und ihre ausländischen Gäste luxuriös zu feiern. Obendrein waren die fremden Diplomaten ja in ihren Ansprü- chen an Unterhaltung und verfeinerte Gastlichkeit nicht einmal wählerisch. Wie Martha Dodd immer wieder beobach- ten konnte, waren sie doch selbst im ei- genen Kreise fade und geniesserisch, wi- chen sie doch jedem anregenden und ernsthaften Gespräch aus. Nur die An- spruchsvollsten unter ihnen suchten durch Geistreichelei, Witz und Sarkasnius zu blenden. Die meisten aber absolvier- ten täglich ihr halbes Dutzend Gastereien bei ewig gleichen Flachgespräch und bil- deten sich dann ein, dergestalt ihren di- plomatischen Informationspflichten ge- nügt zu haben! Jede wirkliche Büro- oder geistige Arbeit war ihnen ein Greuel. Man hört heute so viel von der notwen- digen grundsätzlichen Neuordnung der Welt nach dem Kriege. Dazu gehört auch, dass Schluss gemacht wird mit dieser Diplomatie und mit deren Diplomaten. Worte zum Nachdenken Lenin: "Ehedem tauschten. Alexander I. und Napoleon Völker miteinander aus, ehedem tauschten die Zaren Polen aus. Und wir sollten diese Taktik der Zaren fortsetzen? Das wäre ein Verzicht auf die Taktik des Internationalismus, das wäre Chauvinismus schlimmster Sorte.... Wir sagen: "Ein russischer Sozialist, der die Freiheit Finnlands ver- neint, ist ein Chauvinist". V/ir sagen: "dass über die Grenzen der 5 Wille der Bevölkerung zu bestimmen hat. Nein, russisches Volk, wa- ge es nicht, Finnland zu vergewaltigen; das Volk kann nicht frei sein, das selbst andere Völker unterdrückt. Wir werden sagen: Deutschland, heraus mit den Truppen aus Polen, Russland, heraus mit den Truppen aus Armenien! Alles andere wäre Betrug." (Am 12. 4. 1917 in der Rede über die nationale Präses Lenin : "Jede Nation muss das Selbstbestimmungsrecht erhalten, das trägt zur Selbstbestimmung der Werktätigen bei. Wenn wir sagen würden, dass wir keine finnische Nation, sondern nur die werktätigen Mas- sen anerkennen, so würde das dizi- Deutschland steht, geht aus einem Erlass des Verkehrsministeriums vom 15. De- zember 1939 hervor. Zunächst wird ver- boten, dass den Eisenbahnern der ihnen aus früheren Jahren zustehende Restur- laub gewährt wird. Nur "so weit es der Dienst zulässt" sollen Eisenbahner ein paar freie Tage als Ur- laubs-Ersatz erhalten, "die auch im Jah- re 1938 (!) keinen oder nur einen gerin- gen Teil des Erholungsurlaubs erhalten konnten." Der bis zum 1. April nicht be- willigte Resturlaub verfällt. Der 1940er Ur- laub ist "zunächst nur bis zu zwei Drit- tel der Gesamtdauer zu bewilligen" und kann in Form der Gewährung einzelner unzusammenhängender freier Tage abge- golten werden. "Der Beamte kann den Urlaub auswärts verbringen, dabei hat er sich jedoch so einzurichten, dass er je- derzeit telegraphisch zu erreichen ist und spätestens 24 Stunden nach Aufgabe des Telegramms seinen Dienst wieder antre- ten kann." Sozialversicherung Sehr viele Arbeiter, besonders solche, die in kriegswichtige Betriebe abkomman- diert wurden, wohnen von ihrem Arbeits- ort weit entfernt; die Länge des zurück- zulegenden Weges und die Abspannung der Arbeiter nach der übermässig aus- gedehnten Arbeitszeit (die bekanntlich nach der Arbeitszeitverordnung vom 13. Dezember 1939 auf 10 Stunden erstreckt wird) führt zu einer beängstigenden Ver- mehrung der Unfälle auf dem Wege von der Arbeit, die nach dem Unfallversiche- rungsgesetze entschädigungspflichtig sind. Nun hat, wie der "Angriff", das Blatt der DAF., mitteilt, die Reichsversiche- rungsanstalt angeordnet, dass solche Weg- unfälle, "sofern es sich um Ermüdung von der betriebsüblichen Arbeit handelt, un- berücksichtigt bleiben; derartige Abge- spanntheit muss durch erhöhte -Sorgfalt ausgeglichen werden. Das gilt auch dann, wenn die normale Arbeitszeit (von 10 Stunden!) "nur um eine geringfügige Spanne überschritten wird." Lebenshaltung und Preise Die Lebensmittelpreise sind in Deutsch- land so hoch, dass sehr viele Arbeiterfa- milien sich die sehr knappe Lebensmittel- 9 ration nicht leisten können. "Lediglich die Milch-, Fett- und Zuckerkarte brau- che ich ganz auf", schreibt eine Arbeiter- frau im "Schwarzen Korps" (vom 18. Jänner 1940), dem führenden Nazi-Wo- chenblatt. "Bei den Nährmitteln-, Brot- und Fleischkarten bleiben mir noch ziemliche Mengen über..., für die mir... das Geld fehlt." Wer Geld hat, aber kann nicht nur die Karten ausnutzen, er kann auch noch im Schleichhandel Zusatzle- bensmittel kaufen. In Wien z. B. zahlt man für ein Pfund Schmalz im Schleich- handel 6.50 Mark, den sechsfachen La- denpreis. Tee kostet im Schleichhandel pro Pfund 22.50 Mark. Auf Kaffeekarten gibt es seit langem nur noch Kaffee-Er- satz, aber im Schleichhandel kann man Kaffee für 25 Mark je Pfund kaufen. Ei- ne Schleichhandels-Gans kostet in Wien 50 Mark, eine Stange Salami 40 Mark. (Wiener Völkischer Beobachter" vom 26. und 28. Januar 1940). VON DER INNEREN FRONT Ley ruft die Prolietarier auf In einem Appell an die Arbeiter, den der "Angriff" veröffentlicht, verändert der Führer der Deutschen Arbeitsfront Dr. Ley die berühmten Schlussworte des Kommunistischen Manifestes "Proleta- rier aller Länder vereinigt euch!" fol- gendermassen: "Proletarier aller Länder vereinigt euch, damit die Herrschaft des englischen Kapitalismus zerschlagen wird!" Es müsste weiter heissen: „Und damit ihr alle entrechtete und stumme Sklaven der nationalsozialistischen Diktatur wer- det!" Der geniale Baidur Im vorigen Weltkrieg machte sich Profes- sor Sombart lächerlich durch sein be- rüchtigtes antienglisches Pamphlet- "Händler und Helden". Heute entdeckt Baidur von Schirach, worin der eigent- liche Gegensatz zwischen Engländern und Deutschen besteht: "England ist ei- ne grauenerregende geistige Einöde, in der ein kulturelles Leben und damit ein höheres Menschendasein überhaupt nicht möglich ist. Der Hass Englands gegen Deutschland (der nie vorhanden war!) ist der Hass der Mittelmäßigkeit gegen das Geniale." Wie recht Baidur hat, sieht man schon daran, dass er sich in Deutschland als Heimkrieger betätigen kann, während viele deutsche Gelehrte und Künstler in die geistige Einöde Englands geflüchtet sind. Heldenmarmelade Viele von uns werden sich noch mit Grausen an die Heldenmarmelade des wilhelminischen Weltkrieges erinnern, wenn sie hören, dass die NS-Frauen- schaft bereits im ersten Jahre des Hit- lerkrieges folgende Kochrezepte anpreist: "Dicke Graupensuppe, ohne Milch ge- kocht und im Teller mit kleinen Marme- laden- oder Kunsthonighäufchen besetzt. Pudding aus DPM (Deutsches-F'udding- Mehl) mit in Wasser verdünnter Marme- lade übergössen. Dicke Suppe aus Flieder- beersaft mit Marmeladenzusatz. Rohe, in etwas Wasser eingeweichte Haferfloc- ken, die vor dem Essen mit Marmelade oder Kunsthonig leicht gesüsst werden." "Das alles sind Speisen, die wir unserer ganzen Familie nicht oft genug vorsetzen können, wenn wir es mit ihrer Ernährung gut meinen", heisst es am Schluss. Wehrpflicht der Zehnjährigen Der Kriegsplan für die HJ verfügt oie totale Erfassung aller Jungen und Mädel vom 10. Lebensjahr an. Für alle diese Kinder tritt ab 20. April die "Kriegsdis- ziplinordnung" in Kraft. Zu ihrer besse- ren Durchführung werden 60.000 HJ-Füh- rer in den Kasernen militärisch vorgebil- det. Zehnstundentag für Jugendliche Laut neuer Verfügung können Jugendli- che unter 16 Jahren bis zu 10 Stunden, unter Umständen sogar noch länger be- schäftigt werden. Bei neunstündiger Arbeitszeit haben Ju- gendliche unter 16 eine halbstündige Ar- beitspause. Passivität heisst dem Verbrechen freien Lauf lassen 10 Kindermund "Kindermund tut Wahrheit kund". In diesem Falle sind es Zitate von Schü- leräusserungen , die im "Ruhrarbeiter" und in der "E3ssmer Nationalzeituing'1 standen, die ein bezeichnendes Licht auf die Stimmung in Deutschland werfen. Als der Lehrer in der Klasse Propagan- da für den Kauf von "Sparmarken" (zum besten des Hitlerkrieges) macht, sagt der kleine Peter: "Bekomme ich auch das Geld wieder, wenn der Kassierer durchbrennt?" Und bei der gleichen Gelegenheit sagt ein anderer Schüler das zukunftsschwere Wort: "Wenn aber die Sparkasse pleite geht?" FLUESTERWITZE Welches ist der Unterschied zwischen In- dien und Deutschland? In Indien hungert ein Mann für das ganze Volk. In Deutschland hungert (tos ganze Volk für einen Mann. In der Siegfriedstellung: An der Front ist Ruhe. Drei Soldaten un- terhalten sich darüber, was sie am ersten Tage des sehnsüchtig erwarteten Friedens tun werden. Der eine will sich ordentlich satt essen, der zweite will den ganzen Tag schlafen. Der dritte sagt: "Ich wer- de gleich früh am Morgen eine Rund- reise durch Grossdeutschland antreten." Da fragten ihn die andern: "Und was tust du am Nachmittag?" Rauschnings Gespräche mit Hitler Man muss starke Bedenken gegen Rauschning hegen, da er noch Ge- folgsmann Hitlers geblieben ist, als er schon längst um die verbrecheri- schen Taten und Pläne der Hitlerdiktatur wusste. - Wir haben diese Be- denken bereits geäussert, und sie werden - durah Rauschnings neues Buch keineswegs entkräftet. Man kann kein grosses Vertrauen haben zur Urteilsfähigkeit eines Mannes, der Hoffnungen auf einen Papen setzen konnte, und der in seinem Buch die leichtfertige und unwahre Behaup- tung aufstellt, die ehemals sozialistischen Arbeitermassen seien restlos vom Nationalsozialismus ergriffen worden. Diese mangelnde Ur- teilsfähigkeit des heute im übrigen zu mancherlei Einsichten gelangten konservativen Romantikers wird auch dadurch bestärkt, dass Hitlers Ti- raden, wie er selbst gesteht, manchmal eine suggestive Wirkung auf ihn ausgeübt haben. Trotz dieser Einwendungen gegen den Verfasser ist sein neues Buch au- sserordentlich interessant, weil wir hier den Hitler kennen lernen, der seine eigentlichsten Gedanken und Ziele einem Menschen gegenüber ausplaudert, den er beeindrucken und ganz für sich gewinnen möchte. Und dieser "echte" Hitler ist noch verabscheuungswürdiger als der Hit- ler, den wir aus "Mein Kampf" kennen. Hitler verneint und beschimpft alles, was uns bis dahin als erstrebens- wert, als gut, als schön, als Wahrheit, als Gerechtigkeit erschienen ist. Ein unbändiger Hass gegen das alles, ein wilder Zerstörungs- und Ver- nichtungsdrang beseelt ihn. Nur ein Ziel kennt er: Macht, Macht! In die- sem grenzenlosen Machthunger liegt etwas Dämonisches und Unheimli- ches. Vor ihm hat nichts Bestand. Er will die ganze Welt zu seinen Füssen sehen. Was Hitler darüber hinaus an positiven Zielen äussert, ist leeres, bombastisches Geschwätz, formlos und nebelhaft. Es verrät den Nichts- 11 wisser und Nichtskönner und enthüllt zugleich seinen Grössenwahn, wenn er etwa von der Schaffung eines neuen Menschen faselt. Im Kampf um die Macht ist. jedes Mittel erlaubt, wie Hitler nicht müde wird zu betonen. Die wichtigsten sind rohe Brutalität und skrupellose Lü- ge. "Wir sind Barbaren, wir wollen es sein", sagt er. "Wenn ich eines Ta- ges den Krieg befehlen werde, kann ich mir nicht Gedanken machen über die zehn Millionen junger Männer, die ich in den Tod schicke." Getreu seinen Worten "Die Welt wird nur mit Furcht regiert" und "Grau- samkeit imponiert" hat Hitler, wie Rauschning berichtet, bewusst erb- lich belastete Elemente, Verbrecher und Säufer aussuchen lassen, um die Insassen der Konzentrationslager zu foltern und zu peinigen. Als ihm von furchtbaren Greueltaten seiner Verbrechergarden berichtet wird, tobt er vorWut , nicht etwa über die Verbrecher, sondern über die Ankläger. Er zeterte in hohen, schrillen Tönen, stampfte mit dem Fuss auf, schlug mit den Fäusten auf Tisch und Wände. Schaum vor dem Munde, in xiasslosem Jähzorn keuchte und stammelte er. . . Es war beängstigend anzusehen. Die Haare zerzaust um das Gesicht, stiere Augen, das Ge- sicht verzerrt, puterrot". Man solle ihn mit solchen "lächerlichen" Vor- kommnissen verschonen, brüllt er seine Umgebung an. Wenn die Leute hörten, was ihnen in den Lagern bevorstehe, würden sie sich schon über- legen, etwas gegen ihn zu tun. Hier schrie die Angst des bösen Gewissens, besser, da Hitler kein Ge- wissen hat, die Angst vor Vergeltung aus dem Bösewicht. Denn er ist feige. Brutale Gewalt wendet er nur gegen Wehrlose oder Schwächere an. Die Starken sind zunächst durch ein Lügennetz zu umgarnen und durch Korrumpierung, Bestechung, Spitzelei schlachtreif zu machen, in seiner grössenwahnsinnigen Menschen Verachtung will er die Menge des deutschen Volkes zu einem rechtlosen "Kollektiv der Dienenden" machen. Sie sollen Analphabeten sein, haben nur zu arbeiten und blind zu gehorchen. Noch unter ihnen soll die Sklavenschicht" der Unterwor- fenen stehen, soweit diese nicht ausgetilgt werden, um Platz für die Deut- schen zu schaffen — wir sehen wie dieses Rezept heute gegen die Tsche- chen und Polen befolgt wird. Ueber diesen Knechten erhebt sich die ; angweise abgestufte Mitgliedschaft der NSDAP, und über denen steht endlich die neue Herrenschicht der von Hitler Auserwählten, an ihrer Spitze der Gottmensch, Adolf Hitler. Wie der oberste Führer, der Gottmensch es heute schon ist, so soll die ganze Herrenschicht frei sein von jedem menschlichen, sittlichen Emp- finden. Man denkt an Oswald Spenglers Meinung, dass in der Zeit des dem Verfall entgegengehenden Spätkapitalismus die grossen Raubtiere um die Weltherrschaft kämpfen würden, wenn man erfährt, dass Hitler eine neue Herrenschicht erziehen will, die gefühllos, gewalttätig und grausam sein soll wie die Raubtiere. Solange das "freie, herrliche Raubtier" von Hitler als neuer höchster Menscheytyp noch nicht gezüchtet ist und deshalb noch nicht auf die Menschheit losgelassen werden kann, begnügt er sich damit, der schmut- zigen Gier seiner vielen Ober- und Unterführer freie Bahn zu geben nach dem Motto: "Macht, was ihr wollt, aber lasst euch nicht erwi- schen'.' Er wünscht geradezu, dass sie stehlen, rauben und betrügen, da- mit sie dadurch fester an ihn gekettet werden. Auch zum Austoben ihrer sexuellen Triebe hat er ihnen Freiheit gegeben mit den Werten: "ich will 12 keinem meiner Leute den Spass verderben. Wenn ich von ihnen das Aeu- sserste vqrlange, so muss ich ihnen auch freigeben, sich auszutoben, wie sie wollen." Hier sind nur einige wesentliche Züge mitgeteilt aus dem grauenhaften. Bild, das Rauschning entwirft. Das Gesamtbild sieht so aus: Ein geistig anormaler, ein moralisch minderwertiger, ein von Neid, Hass, Gier zer- fressener Mensch steht als Diktator an der Spitze des betrogenen und ge- knechteten deutschen Volkes. Umgeben ist er von brutölen und gemei- nen Landsknechten und Hochstaplern, von stiefelleckenden Schmeichlern, und feigen Kreaturen. Zu den letzteren gehört das Gros der alten Beamten und Offiziere. Wenn sich vor diesem Unerhörten die Frage aufdrängt: Wie ist das mög- lich?, so muss man immer wieder feststellen: An die Macht gebracht haben Hitler die Herren Thyssen, Krupp und Hu- genberg, v. Schröder und Schacht, von Oldenburg-Januschau und die junkerliche Hindenburgklique, Herr von Popen und der Herrenklub, und auch Herr Rauschning war mit von der Partie, welche Schwerindustrie und Finanzkapital und Grossagrarier gespielt haben, um der Republik den Garaus zu machen, um die Massen des Volkes besser zu knechten: und um das grosse Revanchespiel des deutschen Imperialismus zu star- ten. Man darf aber ebensowenig vergessen, dass tlie City und die 200 Fa- milien und die von ihnen beherrschte englische und französische Politik Hitler an der Macht gehalten und ihm geholfen haben, um alle gefährli- chen Klippen herum zu kommen. Und als sie Hitler hatten so mächtig wer- den lassen, dass er ihnen selbst gefährlich wurde, als sie endlich den Kampf mit ihm aufnehmen mussten, da ist Hitler in Stalin der Retter er- standen. Mit Recht schreibt Rauschning, der trotz seiner Klassenkurzsichtigkeit: und seiner schweren Irrtümer ein gescheiter Mann ist: "Hitler ist nicht- bloss der, Ausdruck des Pangermanismus, sondern eines ganzen mit Ver- blendung geschlagenen Zeitalters". Und: "Wenn Hitler siegt, ändern siah nicht bloss Staatsgrenzen. Dann hört alles auf, was bisher als Sinn und Wert des Menschentums galt." Das Zeitalter, dessen Ausdruck Hitler ist, ist das Zeitalter des Monopol- kapitalismus und Imperialismus, der Massenarbeitslosigkeit und der Aufrüstung, der Kriege und des allgemeinen moralischen und kulturellen Verfalls. Und wir folgern daraus: Die erste Aufgabe ist die Vernichtung der Hitlerdiktatur und des Nationalsozialismus, die der abscheulichste und gefährlichste Ausdruck dieser Zeit sind. Die zweite Aufgabe ist die Beseitigung des Faschismus überhaupt, der den gleichen Anschauungen und Zielen wie Hitler huldigt. Die dritte und höchste Aufgabe aber ist die Neuordnung Deutschlands und Europas, in einer Weise, dass zugleich mit den furchtbaren Symptomen der Krankheit unserer Zeit, mit Hitler- und dem Faschismus auch die Wurzeln und Ursachen beseitigt werden, der Monopolkapitalismus, Imperialismus und Militarismus. Der Sturz Hitlers liegt im Interesse aller, die Gerechtigkeit und Freiheit wünschen. 13 Worte Th. G. Massaryks: Europa ist am Ende. Und es ist nirgends so völlig zerstört wie in den Ländern des Faschismus, in denen das stillschweigende Uebereinkommen der abend- ländischen Völker, die Unterwerfung unter überlieferte und erfahrunges- mässig bestätigte Logik, der Appell an die antike Kultur und die abendlän- disch-christliche Moral, die Humanität im weitesten Sinne, in aller Form ab- gesetzt und durch Mythos und Führer-Autorität verdrängt wird. Die babylo- nische Verwirrung ist da. Wir sprechen verschiedene Sprachen diesseits und jenseits der politischen Grenzen, die faschistische Staaten und Demokratien voneinander trennen. Und wie der Narr die Gesunden des Wahnsinns be- zichtigt, so schreien die Faschisten es unermüdlich in die Welt, dass sie der Hort der abendländischen Kultur, dass sie die guten Europäer, die Anderen aber die Verräter an Rasse, Geist und Glauben des Abendlandes seien. Die englische Arbeiterpartei zu den Kriegszielen Aus der Erklärung welche die La- bour-Party am 9. Februar über „Krieg und Frieden" veröffentlicht hat, bringen wir das Folgende: „Treu ihrer sozialistischen und demokra- tischen Ueberzeugung und bei voller Auf- rechterhaltung ihrer Gegnerschaft zur Regierung Chamberlain ruft die Arbeiter- partei das britische Volk auf, sein Aeu- sserstes zum Sturz des Hitlersystems bei- zutragen. Die Arbeiterpartei unterstützt rückhalt- las den Krieg des Widerstandes der Al- liierten gegen den Nazi-Ueberfall, weil sie, wiewohl sie den Krieg hasst, ihn dennoch für das geringere Uebel erachtet, als die Sklaverei, die letzten Endes die einzige Alternative wäre. Das Kriegsziel der Verbündeten muss sein, den Hitlerismus zu besiegen und das durch den Naziüberfall bewirkte Unrecht zu beseitigen, ohne neues Unrecht zu schaffen. Die Arbeiterpartei ist der Ueberzeugung, dass die Verbündeten nicht in Friedens- verhandlungen eintreten sollen, ausser mit einer deutschen Regierung, die be- stimmte Wiedergutmachung nicht nur versprochen, sondern tatsächlich vollzo- gen hat. Nach den Erfahrungen der letz- ten Jahre kann niemand zu einer Nazi- regierüng das Vertrauen haben, dass sie solche Handlungen vollbringen oder sich künftiger Ueberfälle enthalten wird. Die Wiedergutmachung muss die Freiheit für das polnische und das tschechoslowa- kische Volk einschliessen. Kein Verspre- chen der Selbständigkeit dieser Völker kann genügen, wenn es nicht begleitet ist von der Zurückziehung der deutschen Truppen und Polizeikräfte. Oesterreichs Volk, ein noch früheres Op- fer der Hitler-Ueberfälle, muss die Frei- heit erhalten, ohne Einschränkung und Zwang zu entscheiden, ob es innerhalb des Deutschen Reiches bleiben will. Gemäss der Erklärung der englischen Re- gierung: „Wir suchen keine materiellen Vorteile für uns selbst", fordert die Ar- beiterpartei, dass dem deutschen Volke Zusicherungen gegeben werden, dass bei der allgemeinen Neuordnung nach dem Kriege die wahren und gerechten Inter- essen aller Völker, auch die des deut- schen Volkes, geachtet werden. Was immer der Friedensvertrag enthal- ten mag, wird dies jedoch bestimmt nicht der letzte Krieg sein, wenn es bei seinem Abschluss nicht gelingt, den französischen Anspruch auf Sicherheit mit dem deut- schen Anspruch auf Gleichberechtigung auszusöhnen. Wenn England einen von diesen beiden Ansprüchen nicht beachtet oder ihm nicht Rechnung trägt, lädt es bereits einen Teil der Verantwortung für den nächsten Krieg auf sich. Dem französischen Volk, das so oft und so grausam gelitten hat, muss Schutz ge- gen Gewalt und Drohung gesichert wer- den; dem deutschen Volke müssen an- gemessene und friedliche Betätigungsmög- lichkeiteh für seine Energie und seinen Ehrgeiz geboten werden. 14 Den Deutschen sagt die Labour Party: Wir wenden uns gegen jeden Versuch, Deutschland von aussen her zu zerstö- ren. Wir streben nicht nach der Demüti- gung oder Zerstückelung eures Landes. Wir wünschen von ganzem Herzen, euch unverzüglich in der friedlichen Zusam- menarbeit aller zivilisierten Völker will- kommen zu heissen. Solange diese verfluchte Naziherrschaft nicht gestürzt ist, besteht keine Hoffnung auf Frieden zwischen uns. Aber wenn ihr eine Regierung einsetzt, die den aufrich- tigen Willen hat, dass Deutschland ein guter Nachbar und ein guter Europäer sei, dann soll es keine Demütigung und keine Bache geben." Weiter fordert die Erklärung die Schaf- fung einer Staatengemeinschaft, zu de- ren Gunsten die Einzelstaaten auf einen erheblichen Teil ihrer Souveränität zu verzichten haben. Der Staatengemein- schaft muss genügend wirtschaftliche und militärische Macht zur Verfügung stehen, um das friedliche Verhalten der Mitglie- der zu gewährleisten. Imperialismus und koloniale Ausbeutung werden verurteilt. Endlich sollen in einer neuen „Erklärung der Menschenrechte" die Freiheitsrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat fest- gelegt werden. Ihre Voraussetzung ist aber auch soziale Gerechtigkeit. ÖSTERREICHISCHE SEITE Kriegsziel© der österreichi- schen Emigration Das Kriegsziel der tschechischen, der polnischen Emigation ist klar und ein- deutig: Sie verlangt die Wiederherstellung ihres Vaterlandes in den Vor- kriegsgrenzen. Anders die österreichische Emigration. Die Linke der österreichischen Emigration, vornehmlich repräsentiert durch ihren sozialistischen Flügel, wünscht "die Freiheit der österreichischen Arbeiterklasse errungen und gesichert durch die deutsche Revolution. Das österreichische Volk, die österreichi- schen Arbeiter, gemeinsam mit dem deutschen Volke werden sie frei. Frei sollen sie dann selber über ihre Zukunft bestimmen." So Austriacus, der Wortführer der Auslandsvertretung der revolutionären. Sozialisten Oesterreichs im ''Kampf" (Nr. 1, 13. Jänner 1940, Seite 11). Auf dem anderen Flügel der österreichischen Emigration stehen die Legitimi- sten, die* vom Krieg die Wiederherstellung der Habsburger-Monarchie erwar- ten. Gewiss gibt es innerhalb des Legitimismus einen weiten Kreis demokra- tisch gesinnter Menschen, die sich zur monarchistischen Staatsform bekehrt haben, weil sie ihr die Fähigkeit zutrauen, der Entartung der politischen Herrschaftsformen, wie sie der Faschismus darstellt, dem Machtantritt des Banditismus, unüberwindliche Schranken entgegenzusetzen. In den Erfah- rungen der Geschichte ist diese Erwartung nicht begründet. Das kaiserliche Russland war der Schauplatz wilder Pogrome und grausamer Gesinnungsver- folgungen; die SA hat ihr Vorbild in den Schwarzhundertschaften und die Gestapo in der Ochrana des Zaren aller Reussen. Weder das Haus Savoyen hat Mussolini, noch das Haus Bourbon dem Primo de Rivera Widerstand ent- gegengesetzt; im Gegenteil, keiner von beiden wäre ohne Hilfe der Dynastie zur Macht gelangt. Der griechische König, mit englischer Hilfe auf seinen Thron zurückgeführt, hat seinem darob offenbar nicht ausreichend begeister- ten Volke ein vollfaschistisches System auferlegt. Die Vorstellung, dass die Monarchie der Garant der Demokratie sei, ist eine Illusion, die auch der Hinweis auf England nicht stützt; die englische Demo- kratie beruht vielmehr darauf, dass man dort den König, der sich ihr nicht fügt, vom Throne jagt, wie wir alle erst kürzlich miterlebt haben. Aber nicht diese illusionistischen Monarchisten interessieren politisch, son- dern die aktivistische Abart des Legitimismus. Der "vaterländische" Faschis- mus des Oesterreich von 1934 war, insbesondere seit Schuschnigg seine Füh- rung übernommen hatte, selbst monarchistisch; die Keimbringung der Dy- nastie sollte sein Werk krönen. Aber der Verrat an der Republik trug die erhofften Früchte nicht der Dyna- stie, sondern Hitler. Sie hat aus dieser historischen Erfahrung nichts gelernt. Der aktivistische Legitimismus, der sich zum grössten Teil aus den emigrier- ten österreichischen Faschisten rekrutiert, begnügt sich nicht mit der Wie- derherstellung Oesterreichs, sondern er träumt von der Wiederaufrichtung der österreichisch-ungarischen Monarchie unter Habsburgs Szepter. Und da man immerhin kaum ausser Betracht lassen kann, dass beträchtliche Teile der einstigen Erblande des Erzhauses in Polen, Jugoslawien. Rumänien aufge- gangen sind, bezieht man diese Staaten gleich mit ein. Und um dem Westen, Europa und Amerika, diesen Plan mundgerecht zu machen, kleidet man ihn als Donauföderation ein, nur ist das Kostüm um eine Kleinigkeit ergänzt: die Kaiserkrone der Habsburger. Die habsburgisch-legitimistische Konzeption trifft sich mit alten Plänen der vatikanischen Diplomatie, der Vereinigung der Völker ohne Unterschied ih- rer Nation, die den Raum füllen zwischen dem zum Protestantismus abgefal- lenen Teil Deutschlands und dem schismatischen griechisch-katholischen Osten, zu einem katholischen Grosstaat. Die Reaktion in den westeuropäischen Ländern, die dort heute noch an der Regierung ist, hat für diese Pläne viel übrig. Nichts fürchtet sie so sehr, als die soziale Gärung, die der Krieg in Europa auslösen muss. Alles ist ihr will- kommen, was das Vacuum ausfüllen kann, das der Sturz Hitlers hinterlassen wird. Die westeuropäische Reaktion weiss sehr wohl, dass der habsburgisch- vatikanische Plan bei den anderen, denen er zugedacht ist, Ablehnung und Widerstand begegnet. Das weiss natürlich noch viel besser der aktivistische Legitimismus. Aus dieser Verlegenheit gibt es aber einen Ausweg: die bewaff- nete Intervention. Nicht Hitler und Mussolini, sondern Habsburgs Kanzler Metternich ist der Erfinder der bewaffneten Intervention gegen ein um sei- ne Freiheit kämpfendes Volk gewesen. Schon einmal, 1848, hat fremde bewaff. nete Intervention, die des Zaren, Habsburgs Herrschaft restauriert. Unter dem Schutz einer englisch-französischen Armee hofft man den Kaiser in der Burg seiner Väter zu installieren. Wenn aber die Westmächte versagen, dann rechnet man mit Mussolini, der die Errichtung einer demokratischen oder gar sozialistischen Republik und einer freien Föderation von Donaurepubliken in seinem "Lebensraum" nicht dulden werde. Die Erörterung darüber, wie weit diese Pläne schliesslich realisierbar sein werden, muss in diesem Zusammenhange unterbleiben. Wir halten sie für völlig irreal, aber in den Staatskanzleien in Paris und Rom und sogar in Lon- dan werden sie ernst genommen. In Paris ist versucht worden, die linke Emi- gration durch Drohung und schärfsten Druck zur Kooperation mit dem akti- vistischen Legitimismus zu zwingen und selbst Benesch musste erst ähnliche Versuche energisch abwehren, sie verzögerten die Anerkennung seiner Regie- rung um Monate; Berichte über die Verhandlungen des Legitimismus mit Mussolini durchliefen die Weltpresse. Hier aber sollte vor allem dieser Gegensatz aufgezeigt werden: Die Linke der österreichischen Emigration erwartet die Freiheit Oesterreichs von dem Sie- ge des Freiheitskampfes in Deutschland; sie beansprucht für das österrei- chische Volk das Recht, über sein Schicksal selbst zu entscheiden, über die Staats- und Wirtschaftsform Oesterreichs und, immer in voller Respektierung ihrer Lebensnotwendigkeiten, auch über sein Verhältnis zu seinen Nachbar- ländern. Die legitimistisch-aktivistische Rechte hingegen ist entschlossen, ihr Ziel, die zentraleuropäische Habsburger-Monarchie dem österreichischen und. den anderen Völkern, die es trifft, mit Gewalt aufzuerlegen; wenn sie sich I« freiwillig nicht fügen. Zwischen diesen beiden, nicht nur in ihrem politischen Inhalt, sondern auch in ihrer politischen Ethik, vollkommen antagonisti- schen Kriegszielen gibt es keine Einigung und darum auch keine Einigung innerhalb der österreichischen Emigration mit denen, die die Freiheit Oe- sterreichs 1934 verraten haben und sich nun anschicken, seine künftige Frei- heit gegen eine Kaiserkrone an die Reaktion Europas zu verschachern. Bemühungen zur Errichtung eines Office Autrichien in Paris Die meisten politischen Richtungen der österreichischen Emigration haben ihr Auslandszentrum in Paris. Es war daher zu erwarten, dass auch dort diejenige ge- meinsame Stelle errichtet werde, die dann im Namen der gesamten österreichischen Emigration zur Welt sprechen könnte. Es ist schwierig, von hier aus zu beurteilen, woran es liegt, dass dies noch nicht ge- lang. Die scharfe Zensur, denen in Frank- reich vor allem die links stehende Emi- grantenpresse unterworfen ist — der Pa- riser „Kampf", das Organ der Revolutio- nären Sozialisten Oesterreichs, kommt regelmässig mit grossen weissen Flecken an — und die sich auch auf die Privat- post erstreckt, unterbindet jede den Din- gen auf den Grund gehende Berichter- stattung. Es scheint, dass in Paris zu- erst die „vaterländische" und faschisti- sche Gruppe, hinlänglich gekennzeichnet durch die Namen Starhemberg, Zernatto, Stockinger, von der französischen Regie- rung stark favorisiert, aber von der ös- terreichischen Emigration einmütig ab- gelehnt wurde; sie ist seither, vornehm- lich unter englischem Druck, in den Hin- tergrund getreten. Sodann wurde der Plan verfolgt, durch eine „unpolitische" Zusammensetzung des Amtes unter der Leitung von Professor Wassitzky, dem berühmten Pharmakolo- gen der Wiener Universität, die Einigung aller nicht faschistischen Gruppen her- beizuführen. Nach sehr zuverlässigen Be- richten, die uns aus London und Paris zugekommen sind, scheiterte dieser Ver- such an der Haltung der aktivistisches Legitimisten, vor allem ihres Wortführers Dr. Fuchs, der jede Lösung torpediert, bei der er nicht die erste Rolle spielt. Gründung eines „Österreichischen Amtes" in London Wie aus Meldungen der Tageszeitungen bekannt, ist in London das „Austrian Of- fice" ( Oesterreichisches Amt) errichtet worden. Die Leitung besteht aus einem Advisory Comittee (beratendem Aus- schuss) dem der ehemalige österreichi- sche Gesandte in London, Frankenstein, Minister Dr. Schüller, der die meisten Handelsverträge für die österreichische Republik abgeschlossen hat, und Prof. Dr. Hertz, ein bekannter Soziologe und Gelehrter, angehören, und einer ge- schäftsführenden Amtsleitung, bestehend aus Dr. Franz Klein, einem österreichi- schen Journalisten von Rang, Graf Huyn, ehemaligem Presse-Attache der österrei- chischen Gesandtschaft in London, und Heinrich Allina, ehemaligem Sekretär des Reichsvereins der Bankbeamten und so- zialdemokratischem Abgeordneten von Wien. Das Amt nimmt für sich in An- spruch, nicht nur die in England ansäs- sigen österreichischen Emigranten zu ver- treten, sondern für die gesamte österrei- chische Emigration zu sprechen. Dem steht aber im Wege, dass die Auslands- vertretung der Revolutionären Sozialisten Oesterreichs in Paris das Amt nicht an- erkennt. Aus einem Schreiben, das der Leiter unserer Informationsstelle von Herrn Allina erhalten hat, geht die Tat- sache hervor, dass er eigenmächtig ohne vorherige Zustimmung der Auslandsver- tretung in das Amt eingetreten ist und aus diesem Grunde aus der Londoner Gruppe der RS ausgeschlossen wurde. Unklar ist auch noch, welche Beziehung zwischen dem in Paris geplanten „Office Autrichien" und dem Londoner Amt be- stehen soll, wenn beide die Vertretung 17 der gesamten österreichischen Emigration beanspruchen werden. Das Austrian Office hat eine Grundsatz- erklärung abgegeben, die folgenden Wort- laut hat: 1. Das OeA wirkt im Geiste aller Oester- reicher, die für die Befreiung ihres Lan- des kämpfen und sich zur Demokratie bekennen. 2. Das OeA unterstützt die Herstellung einer besseren internationalen Rechtsord- nung, gesichert durch die Verpflichtung zu gegenseitigem Beistand, durch eine grosszügige wirtschaftliche Zusammenar- beit, und gegründet auf Souveränitätsbe- beschränkungen aller Beteiligten. Die Vorteile dieser Ordnung sollen nur die- jenigen Nationen gemessen, die diesen Verpflichtungen nachkommen. 3. Das OeA unterstützt eine derartige Neuordnung, vor allem im Donaubecken, geleitet von der Erfahrung, dass nur so Sicherheit, Friede und Wohlstand der Donauvölker verbürgt werden können. 4. Das OeA unterrichtet das österreichi- sche Volk frei und unabhängig über das, was innerhalb und ausserhalb seines Staatsgebietes geschieht, und gibt der übrigen Welt die Wahrheit über die Vor- gänge in Oesterreich bekannt. Wir begrüssen in dieser Erklärung das Bekenntnis zur Demokratie, das den Au- strofaschismus aus der Mitwirkung im Austrian Office ausschliesst. Der Grund- satzerklärung sind „Erläuterungen" an- gefügt, aus denen diesesmal nur noch ein Satz hervorgehoben sei: „Das OeA will der künftigen Staatsform Oesterreichs, der Frage von Monarchie und Republik, nicht vorgreifen." EINE GEWERKSCHAFTLICHE STELLUNGNAHME GE- GEN DAS LONDONER AMT (ITF) Die Auslandsvertretung der Freien Arbeiter- und Angestellten-Ge- werkschaften Oesterreichs teilt mit' Die Mitglieder der Auslandsvertre- tung der Freien Gewerkschaften Oe- sterreichs, die allein befugt sind, im Namen der in Oesterreich illegal wir- kenden Gewerkschaften zu sprechen, erklären, dass das "Austrian Office", das sich in London aufgemacht hat, keinerlei Verbindungen mit den Ge- werkschaften hat. Es sind daher we- der das AO noch einzelne Personen dieses Amtes befugt, sich als Vertre- ter der freigewerkschaftlichen Arbei- ter und Angestellten Oesterreichs zu bezeichnen oder in deren Namen zu sprechen. Die tödliche Krankheit des österreichischen Legitimismus Angesichts der Aktivität der ledi- timistischen Emigration, die eine Bedeutung vortäuscht, die nicht vorhanden ist, sind folgende Aus- führungen interessant, die „L'Or- dre", eine konservative Pariser Zei- tung, am 19. Februar gebracht hat: „Der Legitimismus am Ufer der blauen Donau ist tot. Er ist an einer Krankheit gestorben, die kein Erbarmen kennt: an der Teilnahmslosigkeit. Man darf nicht vergessen, dass von 1919 bis zum Augen- blick, da Hitler Oesterreich unterwarf, das arme Land ein Opfer der verschieden- sten Parteien gewesen war, die einander folgten und einander bekämpften. Nach Dollfuss' Aufstieg ist selbst die früher so -mächtige christlichsoziale Partei ver- schwunden und hatte sich teilweise mit der Heimwehr verschmelzen müssen. Die- se verschwand ihrerseits und wurde von der Vaterländischen Front abgelöst, die natürlich mit dem Anschluss unterging. Nur die sozialistische Partei hat es ver- mocht, ihre Geschlossenheit nahezu auf- rechtzuerhalten . . . Ja, der Legitimismus ist gestorben an der Teilnahmslosigkeit eines Volkes, das wie durch ein Wunder die Zerstörung der österreichisch-ungarischen Monarchie überlebt hatte. Aber selbst als unter der Aegide des grossen Staatsmannes Ignaz Seipel das Parlament des kleinen Oester- reich noch regelrecht funktionierte, ist es den Legitimisten niemals gelungen, auch nur einen einzigen Abgeordneten in die Kammer zu entsenden. Und diese Einstellung hat sich nicht geändert.. >8 STIMMEN AUS DEM LESERKREIS E. H. UND DIE „KLEINLICHEN TAGESZIELE" Unter der Ueberschrift "Interessenver- den, und nicht zuletzt waren es beschä- tretung der Opfer des Dritten Reiches" schrieb ein mit "E. H." unterzeichneter Leser des Arg. Tageblattes einen Brief an diese Zeitung, der am 24. März ver- öffentlicht wurde. "Interessenvertretung der Opfer des Dritten Reiches"?: das ist gewiss eine Angelegenheit, deren Notwendigkeit er- kannt und nach Möglichkeit der vorhan- denen Kräfte realisiert wurde, seit die ersten Hitlergegner in Konzentrationsla- ger und Zuchthäuser gesperrt wurden, und seit die ersten Emigranten die Gren- zen ihrer Heimat auf der Flucht vor Re- oktion und Barbarei überschreiten muss- ten. Inzwischen sind viele Jahre vergangen. Jahre der Not, der Entbehrungen, der Opfer und des Kampfes um die Ueber- windung des nazistischen Verbrecher- regimes und um ein neues, kommendes, anderes Deutschland. Dieser Kampf um eine grosse, entscheidende Sache — ent- scheidend für die Lebensgestaltung un- serer und kommender Generationen — ist von bewussten Kreisen der deutschen inländischen Opposition und von be- wussten Kreisen der Emigration unter weitestgehender oder auch vollständiger HilitarLStellung rein privater Interessen geführt worden und hat ungeählte, un- vergessliche Opfer gekostet. Diese ihrer Pflicht bewussten Kreise der deutschen Emigration haben in unermüd- licher, keinesfalls dankbarer Arbeit dar- über aufzuklären versucht, dass der Hit- lerismus weit über die deutschen Gren- zen hinaus eine ungeheure Gefahr für die ganze Welt, für die ganze Menschheit dar- stellt. Sie haben das Entweder-Oder auf- gezeigt, die Entscheidung, vor der die Gegenwart steht: Portschritt oder Rück- fall, Kultur oder Barbarei, Gerechtigkeit oder Willkür, Sklaverei oder Freiheit. Leider sind diese Mahnungen, ist die- se unermüdliche Arbeit bei vielen ohne Anklang geblieben. Ja, sie wurde meist mend grosse Teile der deutschen Emi- gration selber, die sich in sträflicher Weise passiv verhielten. Von diesem unermüdlichen, mit Opfern aller Art verbundenen Kampf der Hitler- gegner innerhalb und ausserhalb Deutschlands hatte E. H. allerdings scheinbar keine Kenntnis. Heute nun ruft er zur Bildung einer "In- teressenvertretung der Opfer des Dritten Reiches" auf. Ist E. H. nach allzulangem Schlaf end- lich erwacht? Sieht er, reichlich spät, was auf dem Spiel steht, worum es geht? O nein; woran E. H. sehr wahrscheinlich bisher kein Interesse hatte: warum soll- te es ihm jetzt wichtig sein? Im Gegenteil: die Aufgabe, die zu erfül- len sich der bereits nach Möglichkeit und örtlichen Gegebenheiten zusammenge- schlossene Teil der deutschen Emigra- tion, in Südamerika in erster Linie "Das Andere Deutschland", gestellt hat, näm- lich im Kampf um Sein oder Nichtsein des menschlichen Fortschritts seinen bestmöglichen Teil beizutragen: diese Aufgabe, dieses Pflichtgefühl dient dem Empfinden E. H.'s nach (wörtlich!) "nur mehr oder weniger kleinlichen Ta- geszielen, eng verbunden und abhängig von der gegenwärtigen Lebenskonstruk- tur". Mehr weiss E. H. von den bei seinem Aufruf schon bestehenden Zusammen- schlüssen von Nazi-Gegnern nicht zu sa- gen. E. H. ist grosszügiger als andere. Er weiss, worauf es ankommt. Er erstrebt nämlich — jetzt, da sich am Horizont der Untergang Hitlers deutlicher ab- zeichnet, und es sich somit für ihn "lohnt" — "eine Interessengemeinschaft der Privatgeschädigten''. Das ist unmiss- verständlich. E. H. möchte von dem ver- armten, verwüsteten Nachhitlerdeutsch- land wieder in die Besitzverhältnisse als unbequem und sinnlos , empfun-von früher eingesetzt werden. Welche 19 -wahrhaft grosszügige, weitsichtige, dem Gemeinmteresse dienende Einstellung! E. H. ist keine Einzelerscheinung. E. H.: das ist Sammelbegriff für eine Mas- se, für eine Mentalität, einen Geist oder besser: für einen Ungeist. Das kommende, das Andere Deutschland wird nicht genug an — um einer aufzu- bauenden Zukunft willen — opferwilli- gen und begeisterten Menschen haben können, Menschen mit Pflichtgefühl und Gemeinschaftssinn, — dieses von Hitler verarmt und verwüstet hinterlassene Deutschland. Und es wäre ihm nicht zu- letzt zu wünschen, dass es sich gegen jene E. H. - Mentalität zu schützen weiss, die etwas holen möchte und nichts gibt, und die seinem so sehr ge- marterten Dasein nur wieder jene Vor- zeichen und Voraussetzungen geben wür- de, die es neben anderem überhaupt erst möglich machten, dass ein National-"So- zialismus" kam. P. S., Buenos Aires. Em ERLÖSENDES WORT Ein Gesinnungsfreund aus Sao Paulo schreibt uns: Wenn Sie der Frage der Heimkehr der Emigranten nach Europa in Ihrem Fe- bruarhefte auch nur eine Glosse in Klein- druck gewidmet haben — unser "Bravo!" ist deshalb nicht weniger herzlich. End- lich ist das erlösende Wort gesprochen, das hoffentlich kindischen Spekulatio- nen ein Ende bereiten wird. Die Erwä- gungen, die ein Blatt in Montevideo Uber die kostenlose Rückreise anstellt, sind dummdreist und verwerflich. Dem- gegenüber musste mit aller Deutlichkeit gesagt werden, und Sie können es nicht oft genug sagen: Emigration an sich gibt gar keine Rechte oder gar Vorrechte. Nur die Arbeit in der Emigration ist eine Legitimation. Es ist nicht von ungefähr, dass Sie in der gleichen Nummer des AD Herrn Rauschning den Spiegel vorhalten. Kein Emigrant sollte vergessen, dass er ver- gleichsweise das grosse Los gezogen hat, und dass er sich nicht mit den Millio- nen messen darf, die. unbekannter als der unbekannte Soldat, in der Heimat Unsagbares leiden, dass er erst recht nicht den Vergleich herbeirufen darf mit den Tausenden von illegalen Kämpfern, die nie zuvor in so furchtbarer Todes- nähe ihr Werk getan haben und tun» wie heute. Im illegalen Kampf, in den Fol- terkellern der Gestapo und in den Kon- zentrationslagern wächst ein neues Ge- schlecht heran, das, wenn nach Ver- dienst gemessen wird, in der ersten Rei- he steht. Was die Emigration angeht, so wird sehr genau gesiebt werden müssen. Das An- dere, das neue Deutschland wird sich jeden sehr genau ansehen, der zurückzu- kehren wüncht. Dass sofort nach Kriegs- schluss jeder Emigrierte, dem es -im Gastland nicht gefällt, zum nächsten Schiff eilen und auf Kosten des Staates heimreisen könnte, ist ein lächerlicher Irrglaube. Der Neugierige in Montevideo stellt sich die Sache allzu einfach vor. Keine unnötige Hast, ihr Herren Kon- junkturisten! Nochmals: Emigration an sich gibt noch keinerlei Rechte. Legiti- mation ist auch in der Emigration nur und ausschliesslich die Arbeit im Kamp- fe gegen die Hitlerdiktatur. HITLERDEUTSCH- LAND IN BOLIVIEN Aus Oruro, Bolivien wird uns geschrie- ben: Von den 3 Zeitungen am Platze — Oru- ro hat 35.000 Einwohner — teilen sich Nö- ticias und La Patria bei je einer Auflage von etwa 1600 in die Alta Sociedad und die bürgerliche Mitte, La Manana bei knapp 600 Beziehern, früher rein kom- munistisch eingestellt, ist heute das Leib- und Magenblatt der um den Obernazi, einen einstigen Direktor des: Banco Ale- man Transatläntico, sich scharenden, far- benwechselnden und schweifwedelnden, rückenmarkschwindsüchtigen Traban- ten des Dritten Reiches. Neben seiner Tä- tigkeit als Devisenschieber versorgt der Obernazi als einer der unterwürfigsten Göbbelsagenten seit Wochen die kommu- nistische Manana mit nazistischen Pro- pagandamaterial, von einem früheren, über Nacht zu Geld gekommenen Ver- walter einer Mine in seiner Eigenschaft als Vorsitzer der Deutschen Reichsge- meinschaft schmissig unterstützt, der sei- nem gelegentlich mangelnden Verstand durch Zufuhr stark alkoholischer Ge- tränke nachzuhelfen sucht. Dem "Deutschen Verein" gehören Mit- 20 glieder an, die mit wenigen an den Fin- gern herzuzählenden Ausnahmen nie Pulver gerochen haben, höchstens zu Kriegsende als Landsturm in der Etappe "wuchteten", aber am Biertisch Schlach- ten schlagen und Siege feiern können, darob wir alten Frontschweine vor Neid erblassen; fordert man sie aber vor die Klinge, dann kneifen sie und haben die Hosen im Nu gestrichen voll. Um die Deutsche Schule — bei 300 Kin- dern sage und schreibe ein knappe'S Dutzend deutsche — am Leben erhalten zu können, hat man den Mitgliedern der Reichsgemeinschaft Daumenschrauben an- gelegt ; im übrigen ist ihr Leiter, der ne- benamtlich die Konsulatsgeschäfte ver- sieht, einer der "Mussnazis", die sich mit achtenswertem Anstand aus der Affai- re zu ziehen wissen. Der Stab der Schul- bildner, besser gesagt, Bildungsschuster, sind Auslandskücken, die die Weisheit mit dem Schaumlöfel gefressen haben. Sind die Zellen La Paz und Oruro an sich Inhalt- und bedeutungslos, so steht es in Cochabamba noch weit schlechter mit den Nazis; weder mit Peitsche noch Zuk- kerbrot sind die Aussens ei ter zur Raison zu bringen, man hobelt, dass die Späne fliegen, man hobelt gut und geniert sich nicht, den Herrschaften zu zeigen, wo Barthel den Most holt und der Zimmer- mann das Loch gelassen hat. Die Nazi- jünglinge laufen noch mit den Eierscha- len hinter den Ohren herum, machen die Hosen hinten zu und müssen sich von Mami die Nase putzen lassen. Das ist Hitlerdeutschland in Bolivien! — Sie spotten ihrer selbst und wissen nicht wie Mahnworte ARTUR SCHNITZLER Im Nacihlass des grossen österrei- chischen Dichters Arthur Schnitzler hat man seinerzeit eine Mappe mit der Aufschrift: "Und einmal wird Friede kommen..." gefunden. Sie enthält Gedanken, die Schnitzlsr während des Weltkriegs aufge- schrieben hatte. Jetzt sind sie unter dem Titel "Ueber Krieg und Frie- den" vom Verlag Bermann-Fischer, Stockholm herausgegeben. Aus dem kleinen Büchlein, das gerade jetzt im neu angebrochenen Völker- morien als ein Vermächtnis an uriä gelten kann, zitieren wir zwei Stel- len: "Wodurch werden Kriege möglich? 1. durch- die Schurkereien der Mäc htigen, 2. die Dummheit der Di- plomatie, und 3. die Phantasielosig- keit der Völker." "Solange nur ein Mensch da ist, dem der Krieg Vorteil bringen kann, und dieser Eine hat Macht und Einfluss genug, diesen Krieg zu entfesseln, ist jeder Kampf gegen den Krieg vergeblich." OTTO GIOECKEL Und ein anderer, vor einiger Zeit gestorbener Wiener, Otto Glöckel, der als Leiter des Wiener Schulwe- sens die berühmte Wiener Schulre- form durchgeführt hat, möge das Wien vor Dollfuss und vor Hitler zu uns sprechen lassen: "Wir wollen, dass dieses zukünftige Geschlecht die Kraft haben soll, je- den, ob oben oder unten, ob hoch oder- nieder, der noch einmal über seine fluchwürdigen Lippen die Worte: "Auf zum Krieg!" bringt, mit der ganzen Verachtung zu strafen, damit er ausgeschlossen sei aus der menschlichen Geselschaft". Vergessen Sie nicht, wenn Sie Ihre Wohnung wechseln, dem "Anderen Deutschland" Ihre neue Adresse bekanntzugeben. VERGESSEN SIE NICHT unseren Hilfsfonds. Für den Hilfsfonds des ANDEREN DEUTSCHLAND zu ge- ben, ist Pflicht eines jeden Hitlergegners. Senden Sie Ihre Spende an LA OTRA ALEMANIA, Tucumän 309, Buenos Aires. Jeder Eingang wird quittiert. 21 Stimmungsbarometer Die Tageszeitungen wissen zu melden, dass Fritz Thyssen nach Buenos Aires kommen wird. Wenn sich diese Nach- richt bewahrheiten sollte, meinte einer unserer Freunde, würden sich unsere Rei- hen um eine Persönlichkeit von Gewicht und Bedeutung vermehren. Dem ist nicht so. Herr Thyssen hat auch heute in un- seren Reihen nichts zu suchen, denn wir vergessen so schnell nicht. Zwar wird Fritz Thyssens Ankunft in Buenos Aires die Gefolgschaftsmitglieder und die ge- samte gleichgeschaltete Kolonie in schwe- re Bedrängnis bringen. Wir freuen uns darüber. Im übrigen jedoch halten wir für den illustren Gast, der in den letzten 10 Jahren der Kasse der NSDAP mehr als 62 Millionen Mark zur Verfügung ge- stellt hat, ein kleines Begrüssungsgeclicht bereit, das Ludwig Tieek 1848 verfasste. Es heisst: „So habt den Zeitgeist ihr gebraut, gemodelt, Und wie so lustig dann der Brei gebrodelt, Ihm eure Zaubersprüche zugejodelt. Und da's nun gärt und schwillt und quillt, was Wunder, Wenn platzend dieser Hexentopf jetzunder Euch in' die Lüfte sprengt mit allem Plunder!" Als einen nachträglichen Beitrag zum Osterfest veröffentlichen wir -— ohne Er- laubnis des Verfassers — einen besonders rassigen Absatz aus der „Kleinen Oster- Symphonie" von Heinz Steguweit. Dieser Herr ist Inhaber des Goebbels'schen Dichterpreises und gehört zu den meist- gedruckten Autoren des Dritten Reiches. Von seiner Begabung im Folgenden eine Kostprobe: „Das Stiefmütterchen sagte zum lang- stieligen Bauernsenf: Welches Glück, dass wir schon immer unsere Gesetze hat- ten und nicht heiraten durften miteinan- der! Es gäbe sonst kein reines Stiefmüt- terchen mehr auf der Welt und keinen aufrichtigen Bauernsenf. Es gäbe wohl viele langstielige Stiefbauern oder ganze Beete voll Senfmütterchen. Das wäre aber keine Freude mphr, wir würden ein Un- krautleben führen, wuchernd, dreist und nichtsnutzig.. Dem Himmel sei Dank, dass wir ein für allemal mit Wurzeln ver- sehen sind! Und wer sich diese Wurzeln ausrupfen liess, der wurde bestraft, der musste verkümmern. — Der langstieliger Bauernsenf antwortete dem Stiefmütter- chen: Natürlich, du hast recht mit un- serem natürlichen Recht! (Kein Druck- fehler! Die Red.) Uebrigens sind'hierzu- lande, wo jetzt Ostern gefeiert und vom Frühlingserwachen gesungen wird, die Menschen auch heimgekehrt zu den Wur- zeln und zum natürlichen Recht. Einige begreifen's noch nicht. Sie sagen, alle Fllanzen wären gleich vor Gott, der Bau- ernstief so gut wie der Mütterchensenf. Lachen muss ich, denn das stimmt doch nicht. Nein, die Stiefmütterchen sind gleich vor Gott, wie es die langstieligen Eauernsenfe sind; ich sage das mit ei- nigem Famiüenstolz. Würde aber ein langstieliges Stiefbäuerchen vor den Herr- gott treten und ihn fragen: Kennst du mich nicht? der grosse Alte dürfte ant- worten: Nein, woher kommst du? Ich er- innere mich nicht, dich jemals erschaffen zu haben." Wir unsererseits müssen gestehen, dass wir uns nicht erinnern, jemals einen ähn- lichen Senf gelesen zu haben. Im „Berliner Lokalanzeiger" hat neulich ein Leitartikel gestanden, der war betitelt „Das Tribunal der Geschichte". Zum Schlusss konnte man da lesen: „Je schwerer und totaler die Kriege wer- den, um so schwerer wird die Schuld des- jenigen, der einen Krieg entfesselt! Moch te es früher rein soldatische Kriege ge- ben, die das Volk nur mittelbar berühr- ten, so stellen Kriege in unserem Zeit- alter die ganze Existenz von Gross- völkern und Kulturen und das Schicksal von Kontinenten auf das Spiel, und über den Bereich der Waffe und der direkten Kriegsschäden hinaus werden auch alle seelischen, moralischen und schliesslich auch alle politischen und wirtschaftli- chen Bereiche erfasst und durchglüht. Bis zum Kinde hinunter wird darum je- der Mensch die Frage nach dem Warum und nach dem Schuldigen erheben, und diese Fragen werden zu einem dämoni- schen Verhör der .Völker und münden in das Urteil, das dann eines Tages über die Verbrecher gesprochen wild." Wir drucken das ab, um denjenigen un- ter unseren Lesern entgegenzukommen, die da meinen, DAS ANDERE DEUTSCH- LAND hätte Unrecht, an den Nazis aber auch gar kein gutes Haar zu lassen. Den obigen Absatz aus dem „Berliner Lokal- anzeiger" unterschreiben wir voll und ganz. Auch wir werden nicht müde wer- den, nach dem Warum und nach dem Schuldigen zu fragen. Und wenn das da- mische Verhör angeht, das über die 22 Verbrecher in Berlin gesprochen wird, so hoffen wir, mit von der Partie zu sein. In der „Serrapost" aus Ijuhy (Brasilien) findet sich ein im Propagandaministeri- um von Berlin geschriebener Artikel, der nach der ganzen Art seiner Aufmachung und der Anzahl der in ihm verschwende- ten Superlative den Anschein erwecken will, als habe das Dritte Reich wieder ein- mal eine ganz grosse Sache in Angriff genommen. Der Artikel ist überschrieben: „Deutschland geht gegen die Rachitis vor". Untertitel über zwei Zeilen: „Ab- wehraktion für 1,5 Millionen Säuglinge". Und dann geht es los: „Deutschland hat jetfzt atiif volksgesivndjheitlichem Gebiet eine grossangelegte Aktion eröffnet, die in ihrer Art erstmalig in der Weit sein dürfte. In der gesamten Gesundheits- führung des deutschen Volkes tritt eine Wendung ein, deren Tragweite und Aus- wirkung sich noch nicht übersehen lässt." Wozu der ganze Trommelwirbel? Um uns mitzuteilen, dass es im Dritten Reich heu- te 1,5 Millionen Säuglinge zwischen drei und 12 Monaten gibt, denen gratis Vi- gantol als Abwehr gegen die Rachitis ver- abreicht werden muss. In Systemzeiten hat es in Deutschland wahrhaftig genug Elend und Not gegeben. Aber die Rachi- tis, die eine aus schlechter Ernährung re- sultierende Krankheit ist, war so gut wie ganz verschwunden. Nun, nach 7jäh.rigem Bestehen des Dritten Reiches und nach ein paar Monaten Krieg mit höchst man- gelhaft funktionierender Blockade steht es um die Ernährung des deutschen Vol- kes also schon so schlecht, dass man sich zu Abwehrmassnahmen so gigantischer Art gezwungen sieht. Und — nichts ist kennzeichnender für den Geist des Drit- ten Reiches — aus diesem unglaublichen Notzustand macht man noch einen Pro- pagandbartikel, mit dem Refrain „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt". Sie haben den grössten Führer, die grössten Konzentra- tionslager, die besten Flugzeuge, die mei- sten rachitischen Kinder, das grösste Elend der Welt. Michael Gold, der Verfasser von „Juden ohne Geld", schreibt in einer hiesigen Ta- geszeitung einen Artikel, indem er die Politik Stalins zu rechtfertigen sucht. Gold schreibt: „Ich wünsche, dass die Massen in Deutschland und die Völker der ganzen Welt siegen. Die Völker ha- ben aber nichts zu gewinnen, wenn sie diesen Krieg zwischen einem Chamber ■■ lain und einem Hitler unterstützen." — DAS ANDERE DEUTSCHLAND hat aus seinem unbegrenzten Misjstrauien gegen Herrn Chamberlain nie ein Hehl ge- macht, Aber eine Tatsache, die auch Mi- chael Gold nicht leugnen kann, ist, dass dieser Herr Chamberlain zur Zeit Krieg gegen Hitler führt. Und eine andere Tat- sache ist, dass die stalinistische Politik des Defaitismus — würde sie erfolgreich sein — zum Siege des Hitlerismus und zu seiner Ausdehnung über die ganze Welt führen würde. Darum bleiben wir bei un- serer Parole: Alles ist gut, was den Stuiz Hitlers beschleunigt und erleichtert. In La Paz sitzt ein Pg. — oder sind es mehrere — der die Gastfreundschaft Bo- liviens missbraucht, um dieses Land und seine öffentlichen Institutionen in Miss- kredit zu bringen. Da ist kürzlich einem Redakteur der Zeitung „La Nation" ein kleiner Irrtum passiert. So etwas soll in der Hast des Zeitungsbetriebes nicht nur in Bolivien, sondern auch anderswo vor- kommen, Eine nordamerikanische Bilder- agentur hatte ein Foto geliefert, das ei- nen dörflichen Platz darstellt. Ein paar mit Kreuzen bemalte Tanks fahren auf, uniformierte Motorradfahrer daneben. Im Hintergrund ist ein Hakenkreuz erkenn- bar. Aber dessen bedarf es garnicht, um deutlich zu erkennen, dass das Bild hin- ter der deutschen Front aufgenommen ist. Das Kennzeichen der Tanks ist das hitleristische, die Stahlhelme der Unifor- mierten sind deutsche Helme. Der Redak- teur von ..La Nation" schrieb nun verse- hentlich zu diesem Bild folgende Unter- schrift: „Sc moviliza en tractores La Cruz Roja Britanica." Das war ein gefundenes Fressen für unseren Pg. aus La Paz. Er schnitt das Bild aus und sand- te es nach Berlin. Im „Berliner Lokal- anzeiger" wurde es reproduziert und die Goebbelsredakteure machten einen vor moralischer Entrüstung triefenden Kommentar dazu: „So fälschte das eng- lische Lügenministerium ein deutsches Bild", „die bolivianische Tageszeitung „La Nation" die ihren gesamten Nachrichten- und Bilderdienst ausschliesslich aus Eng- land bezieht . . ." „Das Bild ist ein neuer Beweis für die skrupellosen Fälscherme- thoden des britischen Lügenministcri- ums", „so wollen die Londoner Fälscher mangels eigener Leistungen dem neutra- len Ausland mit den Leistungen der deut- schen Wehrmacht, auf englisch frisiert, imponieren." — den ganzen Aerger hät- te sich die „Nation" ersparen können, wenn sie sich auf den Transocean- oder andere Nazidienste „abonnieren" würde. 23 A. Siemsen Preussens Ende — Deutschlands Rettung Das erste Heft unserer Schriftenreihe, das unter diesem Titel erschienen ist, enthält einige besonders wesentliche Abschnitte aus dem Buch von A. Siemsen, Preussen — die Gefahr Europas. Dieses Buch hat durch den Kriegsausbruch so an Interesse gewonnen, dass die gesamte Auflage vergriffen ist, sodass die zahlreichen Nachfragen auch hier nicht mehr befriedigt werden können. Umso mehr sollte jeder die günstige Gelegenheit ergreifen, diese Broschüre zu erwerben. Sie ist zu dem geringen Preis von 20 Centavos bei unseren Ver- trauensleuten oder in der Geschäftssteile zu erhalten. Freie Deutsche Bühne Wie wir schon in der Märznummer des "DAD" mitteilten, beginnen mit dem 20. April in der Casa del Teatro, Santa Fe 1243, die regelmässigen sonnabendli- chen und sonntäglichen Aufführungen der "Freien Deutschen Bühne", die es sich zur Aufgabe machen wird, kulturell im Sinne jenes anderen Deutsch- lands zu wirken, das gegenwärtig in Deutschland selber verfolgt, getreten und zerschunden wird. Die bisherige "Deutschsprachige Bühne in B. A." hat sich mit der FDB ver- einigt, die unter der Leitung P. Walter Jakobs steht und deren Mitglieder alle nichtgleichgeschaltete und zu einem anderen als dem nazistischen Deutsch- land zählende deutsche Schauspieler sind. Neben reinem Unterhaltungstheater, wie es etwa die Komödie "Jean" dar- stellt, mit der die FDB am 20. April zum ersten Mal vor ihr Publikum treten wird, werden auch Gesinnungsstücke von erzieherischem und ideellem Wert zur Aufführung kommen. Zu ihnen gehört das Schauspiel "Der Mann, den sein Gewissen trieb", das für Sonnabend, den 27. und Sonntag, den 28. April auf dem Programm der FDB steht. DiesesSchauspiel, das den französischen Dichter Maurice Rostand zum Autor hat, tritt in sehr feiner, dabei überzeu- gender und spannender Weise für eine deutsch-französische Verständigung und Verbrüderung ein, also für ein Ziel, das wir alle sehnlichst erwünschen und dessen Frage gerade heute, im Rahmen der Diskussion über die Gestal- tung des zukünftigen Europa, besonders aktuell ist. Wir wünschen der FDB einen guten Start und ein gutes Gelingen. Dazu ihren bestmöglichen Teil beizutragen, fordern wir alle auf, die sich zum anderen Deutschland, zum Deutschland von morgen, rechnen. Wir verweisen auch auf das dieser Nummer beiliegende Flugblatt der FDB. Das Andere Deutschland heisst: Deutschland der Kultur und des Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Freiheit. Sich zu ihm zu bekennen, ist Selbstverständlichkeit für jeden Deut- schen anständiger Gesinnung. 24