L Das Andere Deutschland (LA OTRA ALEMANIA) Periödico Alemän Independiente BUENOS AIRES, 15. J uni 1940 JAHRGANG HI — Nr. 27 EINZELNUMMER 30 CENTAVOS JAHRESABONNEMENT: 3 PESOS Buenos Aires, den 9. Juni 1940. Die Folgen von München und ihre Überwindung «Aussprechen was ist", so lautet ein gutes politisches Gebot. Es bedeutet heute eingestehen, dass wir uns geirrt haben. „Wir", das sind alle Antifaschisten. „Wir" im engeren Sinne, d. h. „Das andere Deutschland" haben uns zwar nie wie manche andere Illusionen gemacht über die Macht der deutschen Militär- rnaschine. Wir haben vielmehr immer mit erheblichen Anfangserfolgen Hit- lers gerechnet und vertraten dementsprechend auch in der vorigen Num- mer in unserer am Tage nach dem Ueberfall auf Holland geschriebenen Monatsbetrachtung die Auffassung, dass Holland und Belgien kaum zu halten seien. Aber wir haben uns doch getäuscht über das Ausmass der Wirksamkeit der neuen Strategie und Taktik des deutschen Blitzkrieges und über Bedeutung und Umfang der Quinta Columna. Wir glaubten auch nicht, dass England und Frankreich so sehr im Rückstand seien in bezug Aus dem Inhalt: Auf Dich kommt es an. — Die Geister scheiden sich. — Abrechnung mit Fei#-« heit und Charakterlosigkeit — Das Alte stürzt — Ein Mensch und ein Held. — Zeugnis aus dem Anderen Deutschland. — Nochmal: Jugend "Politik". — Brasilien. — Oesterreichische Seite. — Briefe. 1 auf Flugzeuge und Tanks und zugleich in beeug auf die Abwehr der auf diesen modernen Waffen beruhenden neuen Art der Kriegführung. Die Saat der Chamberlain'schen Politik ist furchtbar aufgegangen. Diese Politik, die den Faschismus und Hitlerdeutschland förderte, die Spanien, Oesterreich, die Tschechoslowakei preisgab, und die dem Wahn huldigte, Hitler sei der fördemswerte Preiskämpfer gegen das bolschewistische Russländ, hat den unvermeidlichen entsetzlichen Zusammenbruch erlitten. DER KAMPF FRANKREICHS Die neue Strategie und Taktik des Hitlerschen Blitzkrieges haben, unter- stützt von der Quinta Columna und dem Verrat des belgischen Königs, Hitler grosse Anfangserfolge gebracht. Aber die Hoffnung auf die Ver- nichtung der englisch-französischen Flandernarmee ist gescheitert. Der heroische Widerstand dieser Truppen und die Hilfe der englischen Flotte haben nicht nur die Einschiffung nach England ermöglicht, sondern zu- gleich den neuen Generalissimus Weygand die kurze Atempause ver- schafft, die notwendig war, um die jahrelangen Versäumnisse und die Fehler der französischen Heeresleitung so weit wieder gut zu machen, dass der mit riesigen Massen an Menschen und Material unternommene grosse Zangenangriff gegen die französische Armee, durch den Hitler die Entscheidung erzwingen will, nicht die erhofften schnellen durchschlagen- den Erfolge erzielen konnte. Die neue französische Taktik hat wirksame Möglichkeiten zur Bekämpfung und Vernichtung der zunächst scheinbar unwiderstehlichen Tanks geschaffen und fügt den Angreifern riesige Op- fer zu. Aber dieser Kampf stellt die ungeheuersten Anforderungen an die franzö- sischen Soldaten, die sich einer materiellen Uebermacht an Tanks und Flugzeugen gegenüber sehen, die nur durch eine fast übermenschliche Moral auszugleichen ist. Man hat den Eindruck, dass die Arbeit der Quin- ta Columna und die defaitistische Propaganda der Kommunisten versa- gen, weil heute das französische Volk versteht, worum es in der jetzigen entscheidenden Kriegssituation geht. Es ist ja nicht wahr, dass er sich in der heutigen 'Phase des Krieges noch in erster Linie um eine Auseinandersetzung zwischen deutschem und fran- zösisch-englischem Imperialismus handle. Vielmehr kämpft das französi- sche Volk heute um seine Freiheit und um die Rettung eines menschen- würdigen Daseins. Aber nicht nur das! Frankreich stand Jahrhunderte lang an der Spitze der europäischen Kultur, Paris erschien nicht mit Unrecht als die kulturelle Hauptstadt der Welt, die grosse französische Revolution hat den neuen Ideen der Freiheit und Gleichheit und der Menschenrechte die Bahn gebrochen, und heute kämpft Frankreich wiederum — trotz aller schweren Fehler und Sünden der Politik seiner herrschenden Klasse — für Europa und darüber hinaus für die Menschheit und auch für uns hier in Amerika. Wer das bezweifelt, der möge sich nur die Folgen eines Hit- lersieges für Europa, für Sowjetrussland und für die Welt vorstellen! Wer meint, zwischen Frankreich und Hitlerdeutschland bestehe kein Unter- schied, und wer damit auch heute noch Hitler Hilfe leistet, der könnte von seinem Wahn wohl höchstens noch durch Gestapo und KZ kuriert werden, ! 2 RUSSLAND? Die Stalinisten, die noch immer ihre defaitistischen Parolen beibehalten; die noch immer nicht in Hitler, sondern in England den Weltfeind Nummer eins erblicken, haben noch nicht begriffen, dass ein siegreicher Hitler sich gegen Russland wenden würde. In Moskau weiss man das zweifellos und ist erschreckt über die hier drohenden Gefahren. Man ist deshalb bereit- willig auf den Wunsch der neuer; Regierungen in London und Paris ein- gegangen, wieder geordnete diplomatische Beziehungen herzustellen. Man bemüht sich keineswegs, die „Freunde" in Berlin ausreichend mit Roh- stoffen zu versorgen, und man warnt sehr nachdrücklich den italienischen Achsenbruder vor Abenteuern auf dem Balkan. Dennoch bleibt es schwer begreiflich, dass Stalin nicht schon jetzt einen noch entschiedeneren Frontwechsel vollzieht, indem er von der wohlwol- lenden Neutralität für Hitler zur wohlwollenden Neutralität für die Alliier- ten herüberwechselt. Wir wissen nicht, ob diejenigen recht haben, die meinen, dass Stalin sich zu schwach dazu fühlt. Sicher ist, dass Russlands Position im Falle eines Hitlersieges ungeheuer geschwächt wäre, und dass es dann unter weit ungünstigeren Bedingungen kämpfen müsse. U. S. A. Neben der Haltung Russlands ist die der Vereinigten Staaten von gröss- ter Bedeutung. Die wachsenden Sympathien für die Alliierten, der stei- gende Abscheu vor den deutschen Kriegsmethoden, die sich allmählich durchsetzende Ueberzeugung, dass auch Amerika durch die deutschen Weltherrschaftspläne bedroht ist, führen zu der immer grösseren Bereit- schaft, die Alliierten nicht nur mit frommen Wünschen, sondern mit Kriegs- material zu unterstützen. Es kommt viel darauf an, wie schnell und in wel- chem Umfang diese Unterstützung erfolgt. Jeder neue Erfolg Hitlers aber muss das Bewusstsein der Gefahr in USA und damit die Wahrscheinlich- keit einer immer entschiedeneren Stellungnahme zugunsten der Alliierten steigern, die schliesslich zwangsläufig zum Eintritt in den Krieg führen müsste. AMERIKA UND DIE QUINTA COLUMNA Wie in USA, so wächst in ganz Amerika die Ueberzeugung, dass Amerika unmittelbar und entscheidend von dem gegenwärtigen Kampf um die Zu- kunft der Welt betroffen wird. Man will zwar unbedingt die Neutralität sichern, aber zugleich steigt die allgemeine Beunruhigung. Das Wort „Quinta Columna1 erfüllt die Presse, die Diskussionen, die Köpfe. Ob die Massnahmen, die zur Sicherung der Neutralität und zur Bekämpfung der Quinta Columna ergriffen werden, immer zweckdienlich und erfolgverspre- chend sind, kann hier nicht untersucht werden. Wichtig ist es schon, wenn ein ernsthafter Wille zur Selbstbehauptung gegen die drohenden Gefah- ren vorhanden ist. ITALIEN wird vielleicht, wenn diese Zeilen gedruckt werden, schon in den Krieg eingetreten sein. Jedenfalls sprechen alle Anzeichen dafür, dass das je- 3 den Tag erfolgen kann. Damit wäre dem durch die frühere alliierte Po- litik verschuldeten, auf die Dauer unhaltbaren Zustand ein Ende gemacht, dass Mussolini ohne eigenes Risiko Hitler die weitreichendsten Helfers- dienste leistet. Was das Eingreifen Mussolinis in einem für Frankreich ge- fährlichen Moment militärisch bedeuten würde, lässt sich nicht mit Sicher- heit voraussagen. Man kennt Mussolinis militärische Pläne nicht. Niemand schätzt das italienische Heer besonders Hoch ein, anders aber steht es mit Flugwaffe und Flotte. Trotz aller grossen Worte bleibt Italien jedoch ein Faktor zweiten Ranges, der sich nicht vergleichen lässt mit der Bedeutung von USA und Sowjetrussland. DER MORALISCHE FAKTOR Der moralische Faktor wird in der heutigen Weltauseinandersetzung von immer grösserer Bedeutung. Unsere Zeit war eine Zeit des allgemeinen Verfalls. Nirgends war das sichtbarer als auf moralischem Gebiet. Fa- schismus und Quinta. Columna legen dafür ein furchtbares Zeugnis ab. Aber die wachsende Bedrohung alles dessen, was bisher das Leben men- schenwürdig gemacht hat, oder als zu Verwirklichende ideale Forderung erschien und auf der anderen Seite der zum letzten Opfer entschlossene Widerstandswille, mit dem man auf den Schlachtfeldern Frankreichs die- ser Gefahr entgegentritt, das ganze ungeheure Geschehen unserer Tage weckt in ungezählten Herzen in der ganzen Welt die schlummernden mo- ralischen Kräfte. Der Weizen sondert sich von der Spreu. Es vollzieht sich die Scheidung zwischen den Gleichgültigen und Feigen, den Lauen und Halben auf der einen, und den Menschen von Herz und Pflichtgefühl auf der anderen Seite. Man erlebt das tagtäglich. Wir glauben an die moralischen Kräfte in der Welt, an die heute ein Ap- pell ergeht, so eindrucksvoll wie wohl koum jemals in der Geschichte der Menschheit. Denn über alle anderen Gegensätze hinweg, die wir keines- wegs leugnen, aber deren Bedeutung heute zurücktritt, geht es um das eine Hauptziel der Rettung der Welt von Unterjochung und Sklaverei und der Oeffnung des Weges in eine bessere Zukunft. Wir bleiberi auch heute bei unserer Ueberzeugung, dass sowohl auf Grund der realen Machtverhältnisse, wie wegen des unzerstörbaren Strebens des Menschen nach Freiheit und Glück das Scheitern und der Untergang Hit- lers und des Nationalsozialismus gewiss sind. Das Andere Deutschland heisst: Deutschland der Kultur und des Fortschritts, der Gerechtigkeit und der Freiheit. Sich zu ihm zu bekennen, ist Selbstverständlichkeit für jeden Deut- 9ch§n anständiger Gesinnung. 4 Auf dich kommt es an In der Not erweist sich der Charakter des Menschen. Das erfährt man heu- te nach der positiven und nach der negativen Seite. Wir meinen damit nicht, ob man die Lage optimistischer oder pessimistischer beurteilt ^— das ist Sache des Temperaments oder der Einsicht — sondern wie sich der Einzelne beim Anwachsen der faschistischen Gefahr angesichts der Erfolge Hitlers persönlich bewährt, ob er sagt: nun erst recht! oder ob er sich verstecken möchte. Soweit der Einzelmensch in Betracht kommt und er bleibt wichtig gerade in unserer Zeit der Technik und des totalen Krieges — gilt das Wort: „Heute kommt es darauf an, was einer gilt auf der Waage der Menschheit. Alles Uebrige ist gleichgültig." Ein paar Beispiele: In dieser Nummer heisst es in dem Brief eines Mannes, der den vorigen Weltkrieg als Offizier mitgemacht hat, man müsse unter allen Umständen weiter kämpfen, und sei es auf einer Fidschi-Insel. Ein Dreizehnjähriger schreibt uns folgenden Brief: ! „Lieber Herr S. Ich habe „Das Andere Deutschland" gelesen, in dem die Beilage für die Jugend war. Ich merke jetzt erst, wie schwer es ist, so einen Brief zu schreiben. Wir wissen noch nicht, ob die Nazis gewinnen. Aber trotzdem sie im Augenblick grosse Erfolge haben, glauben wir nicht an den Endsieg des" Faschismus. Auch wenn die Nazis für einige Jahre die Macht har ben, so hat auf die Dauer die Gewalt noch nie gesiegt, und ich glaube auch nicht, dass sie diesmal gewinnen wird. Lieber Herr S., ich weiss genau, dass dieser Terror nicht von selbst kaputt geht, aber wie z. B. ich bei dem Kampf gegen Hitler helfen kann, weiss ich nicht. In der letzten Nummer veröffentlichen Sie ei- nen Brief von einem Mädchen, in dem es schreibt, unser Wissen sei unsere Waffe. Wie aber kann ich mein Wissen in diesem Kampf be- nützen? Wir haben immer noch die Hoffnung, dass in diesem Krieg die Alli- ierten gewinnen und sind enttäuscht, wenn in Norwegen, Holland und Belgien die Kämpfe mit dem Sieg der Nazis enden. Man merkt hier in Uruguay auch schon die Angst und den Abscheu vor der Gewalt- herrschaft. Die verdächtigen Deutschen der „Quinta Columna" wer- den beobachtet und die Polizei forscht nach. Ich denke, dass ein Krieg sehr schlimm ist, aber die Gewalt noch schlimmer. Es tut mir leid, dass ich nicht weiss, wie ich gegen den Faschismus mit kämpfen könnte, und würde Ihnen sehr danken, wenn Sie mir einen guten Rat geben könnten." Eine sechzigjährige Frau, die ihr Leben dem Kampf für den Sozialismus und gegen den Faschismus gewidmet hat, schreibt aus der Schweiz: „Auf die Länge gesehen, glaube ich weniger als je an Hitlers end- gültigen Sieg. Und ich glaube, dass gerade diese fürchterliche Kata- strophe notwendig war, damit Europa sich besinnt . . . Jetzt wird sich zeigen, was noch an Lebenskraft in ihm steckt. Dänemarks, Hollands und Belgiens Schicksal zeigt ja, wie morsch es war. Norwegen scheint sich zusammenzureissen, und obenauf kommen werden jetzt die Völ- ker, die zu kämpfen und zu sterben wissen, nicht wie die Deutschen als Kriegsroboter, sondern weil sie wissen, was ein menschlich freies Leben wert ist: Spanien trotz allem, Finnland, die Polen, die Tsche- chen . . . Entscheidend und wieder einmal das Herz Europas ist Frankreich. Darauf sammeln sich alle meine Gedanken. Und es ist mir einfach nicht möglich, das Persönliche jetzt wichtig zu nehmen 5 (trotz alles Leides, das es einschliesst) . . . Sorge braucht Ihr Euch meinetwegen keine zu machen. Eis ist alles in Ordnung. Ich stehe an meinem Platze, und wenn ich auf ihm bleibe, so war mein Leben der Mühe wert." Demgegenüber stehen die vielen Gleichgültigen, die heute aufgeschreckt und ängstlich sind, ohne sich zum Mut und Kampf entschliessen zu kön- nen, und hie und da gibt es auch jemand, der so töricht feige ist, dassf er lieber „Das Andere Deutschland" abbestellt. Wohin gehörst du? Dennoch! Sie schreiten in gläubiger Zuversicht über das staubige Feld der Zeit. Und wenn ihre Pflugschar am Fels zerbricht, dann graben sie still mit dem 'Grabescheit und jäten und roden. Sie streuen ihr Saatgut fromm in den spröden Boden. Und all ihre Mühe will, dass die Erde für jeden blühe. Derweilen sie Furche an Furche reihn, bauen die Mächtigen Zaun an Zaun. Die Gläubigen ackern. Ihr Werk muss sein, auch wenn sie den Erntetag niemals schaun. Und wenn einem Greise der Spaten entfällt, gehn Junge in seinem Gleise. Sie schaffen und ringen. dass sie sein Tagewerk weiterbringen. Geschlecht auf Geschlecht geht im Ackerland. Durch die Jahrhunderte klirrt der Pflug. Und stets, wenn der Acker am besten stand und knospende, blühende Aehren trug, dann liessen die Grossen die fruchtbarsten Felder lachend zu Staub stossen und stolz von den Tröpfen, die sie bebauten, die klügsten köpfen. Eines der schönsten und bestgeschriebenen Bücher der Gegenwart ist "Stiefmutter Erde". Es ist von dem jungen holländischen Schriftsteller Theun de Vries. Wir empfehlen es allen warm und es wird in der näch- sten Nummer des D A D eine Besprechung darüber erscheinen. Das Buch ist in der Bücherstube Herzfeld, Tucuman 316, zu haben. 6 Oft starben die Saaten in Blut und Rauch. Stahlschlünde schleuderten Glut und Gift. Der sumpfigsten Hölle zerbarst der Bauch, und Schlammfluten wälzten sich in die Trift, die schwelend erstickte. Und Sturmbrunst sprang hoch, die heulend die Aehren knickte. Und zitternd im Qualme Und zitternd im Abgrund drei grüne Halme. Der eine heisst Freiheit, der andre Recht, Wahrheit der dritte. Sie stehn zerzaust., Das Sterben umwürgt sie mit Schlingengeflecht. Der Irrsinn schwingt drohend die dürre Faust. Die Gläubigen sehen die zitternden Halme über dem Abgrund stehen. Sie bluten und schanzen, um sie aufs neue ins Feld zu pflanzen. Sie schreiten in gläubiger Zuversicht über das blutige Feld der Zeit. Und wenn die Gewalt ihren Pflug zerbricht, dann graben sie still mit dem Grabescheit und jäten und roden. Sie streuen ihr Saatgut fromm in den spröden Boden. Und all ihre Mühe will, dass die Erde für jeden blühe. Hans Reinow. Das Alte stürzt... Die bisherige menschliche Geschichte hat gezeigt, dass kein gesellschaftlicher Zustand statisch ist. dass vielmehr ein Zustand von einem anderen, eine Epo- che von, einer anderen abgelöst wird. Der Uebergang von einer Zeitepoche zur anderen ist nie ohne furchtbare Kämp- fe und Wirren vor sich gegangen. Die Kräfte des jeweiligen Fortschrittes wa- ren an Zahl und Mitteln den Kräften der jeweiligen Reaktion zunächst immer unterlegen und die Kämpfer für das Neue erlebten immer nur zum sehr ge- ringen Teil noch selber die Früchte ih- res unerhört grossen Kampfes. Unverstan- den von dem grössten Teil ihrer Mit- menschen, starben oder fielen sie oft einsam und allein, vielleicht an der Durchführbarkeit ihrer Ideale zweifelnd. Aber ihre Gedanken lebten weiter und waren unsterblich, und der Bundesgenos- se Zeit erhob zur Notwendigkeit, was ih- nen Ideal und Ziel gewesen war. Als in der zweiten Hälfte des achtzehn- ten Jahrhunderts die feudalistische Stän- degesellschaft und ihr letzter Ausläufer, der Absolutismus, am Ende ihres Le- bens waren, und die Zeit nach einer Umformung der Verhältnisse schrie, da begannen mit der französischen Revo- lution neue Gedanken und neue Formen 7 des menschlichen Zusammenlebens ihren Siegeszug über die Erde anzutreten. Und wenn auch die Aufklärer wie Rousseau, Voltaire und Lessing weit über die Ge- gebenheiten ihrer Zeit hinausgingen; wenn auch Robbespierre, der Sprecher des kleinen Bürgers, mit seiner Idee tler absoluten Gerechtigkeit oder Marat und Babeuf, die Führer des Proletariats (des- sen Geschichte mit dem siegreich aufstei- genden Kapitalismus gleichzeitig be- ginnt) mit ihren damals schon soziali- stischen Zielen ihrer Zeit zu weit vor- aus waren, als dass sie ihnen damals Wirksamkeit hätten verschaffen können; wenn auch die grossen Gedanken der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, nur eine sehr beschränkte Verwirklichung finden konnten und die Wirklichkeit sie bald in ihr Gegenteil umkehrte; wenn auch die damals aufstrebende Bourgeoisie gleichzeitig eine reaktionäre neben der fortschrittlichen Rolle zu spielen be- gann, indem sie sich ihre Ziele gegen Privilegien der herrschenden Klassen des alten Systems erkämpfen musste, ande- rerseits aber die Forderungen derer un- terdrückte, deren Ziele über ihre Be- dürfnisse hinausgingen: wenn das auch alles so geschehen ist, so entprachen die- se Geschehnisse doch den Notwendigkei- ten der damaligen Zeit und stellten ei- nen entscheidenden Sieg über 'das da- mals Veraltete, Reaktionäre, Lebensun- fähige dar. Die damalige Zeit fand Men- schen vor , die ihr gewachsen waren. Ungeahnte Kräfte wurden frei, und ein neuer, der entscheidenste Abschnitt der menschlichen Geschichte begann. Die Kunst, die Wissenschaften, die Technik, die Philosophie: alles stellte sich in den Dienst der Forderung: wirtschaft- liche Erschliessung und Ausbeutung der Welt. — Von denjenigen sittlichen For- derungen aber, die die Parolen der Vor- kämpfer dieser bürgerlichen Revolution gewesen waren, von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, von den Menschenrech- ten war bald nicht mehr die Rede. An die Stelle des Geburtsadels war der Geld- adel getreten, der Beherrscher der Pro- duktion. Die Formen und Möglichkeiten hatten sich geändert, nicht aber war die Tatsache aus der Welt geschafft, dass weiterhin eine Minderheit der Menschen die Mehrheit beherrschte und ausbeute- te. Und die Zeit lief weiter bis in unsere Tage. Was damals revolutionär gewe- sen war und fortschrittlich, ist es heute schon längst nicht mehr. Wieder hat eine Zeit abgewirtschaftet und ihre hi- storische Rolle ausgespielt. Wieder ist eine Stunde der Ablösung gekommen, ei- ner Ablösung, die nun in der Lage sein kann und muss, die überzeitlichen Zie- le der Gleichheit und der Freiheit aller und der Gerechtigkeit für alle wirklich und endgültig durchzuführen. Wie zeigen sich nun die Menschen der Gegenwart in dieser entscheidenden Zeit? Wieder ist es nur ein kleiner Teil, der sie versteht, der ihren Forderungen ge- recht zu werden vermöchte. Wieder sind es nur wenige, die den Verstand haben, zu sehen, was ist, und den Mut, ihre Pflicht zu tun; die den schönsten und höchsten Zweck des heutigen Lebens mit dem Geist und mit dem Herzen begreifen können. Wenige sind es, die die Freiheit lieben, und die wissen, dass es allein die Gerechtigkeit ist, die den Menschen aus seinem beladenen Dasein befreien kann. Diesen Wenigen stehen Viele gegenüber, deren Herzen träge sind und deren be- schränkte Selbstsucht ihnen die Möglich- keit nimmt, zu erkennen, dass die Men- schen zusammenhalten müssen, um le- ben zu können. Wie ängstliche kleine Vögel bei einem Unwetter: so flattern sie aufgeregt und haltlos von Winkel zu Winkel, nichtsahnende Opfer ihrer man- gelnden Opferfähigkeit. Denn es wird kein Winkel trocken bleiben, und auch zu ihnen wird das Unheil kommen. Dann ist es zu spät. Sie haben kein Gefühl und keine Solidarität mit anderen ge- habt, und auch mit ihnen fühlen die an- deren keine Solidarität. So hat das Böse leichtes Spiel. Sie werden vielleicht kla- gen über ihre Lage, wenn sie die Wir- kungen der Hölle selber und immittel- barer verspüren, wenn sie den Granaten der Flieger selber ausgesetzt sind oder wenn Sklaverei ihre Leben vernichtet. Aber sie werden auch dann nicht wissen, wie das so gekommen ist. Ihnen fehlt die Möglichkeit, Ursache und Wirkung miteinander in Verbindung zu bringen und daraus für ihr Leben die Folgerung zu ziehen. Von Feigheit und von deren Trabanten, der Charakterlosigkeit, von hysterischem Lachen und hysterischem Klagen bald hier, bald dorthin gerissen, führen sie ein nichtiges Leben, voller Einbildungen und! voller Selbstbetrug. Sie sind der Boden, der Dünger, auf dem das Unheil gedeihen kann. Als Einzelwesen können sie uns nicht interessieren; wir haben keine Möglich- 8 keit, mit ihnen zu sprechen. Aber ihre Menge ist als Faktor von entscheidender Wichtigkeit. Diesen Trägheitsfaktor zu tiberwinden, ist sehr schwer. Und die anderen, die Wenigen? Sollen sie verzweifeln und die Lage als hoff- nungslos ansehen? Wie könnten sie es, wenn sie das Wissen haben um die Zeit, wenn sie den Mut haben, das durchfüh- ren zu wollen, was die Gegenwart von den Menschen fordert! Und auch wenn sie sterben müssen, ohne die Früchte ih- res Wirkens gesehen zu haben: so kön- nen sie doch ruhig und mit einem Ge- fühl des Glücks sterben. Sie sind durch ühr Wirken -unsterblich geworden, wie alle bisher, die dem Fortschritt dienten. Sie sind, im Grunde genommen, die Aus- erwählten der Erde. Mag es schwer sein, das zu glauben: doch ist es so. Diese Wenigen müssen fest zusammen- halten. Ihre Herzen und ihr Verstand sind unbeirrbar, die Solidarität unter- einander ist ihnen Selbstverständlichkeit. Bs werden mehr werden. Sie haben ei- nen mächtigen Bundesgenosse: Die Zeit. Denn ihre Gedanken, ihre Ideen und Ziele heissen nicht Trugbild, Phantaste- rei, Unmöglichkeit, wie sie die Charak- terlosen so gerne zu ihrer eigenen Ent- schuldigung darstellen mc'chten, son- dern sie heissen: Notwendigkeit. Wir wollen, wenn es nicht anders sein cann, Geduld haben und an die schö- nen Worte denken, die Jack London ein- joal über die Unsterblichkeit sagte: "Wir sind ein Glied in der Kette, die die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet, und die Ewigkeit geht durch uns hindurch in die Zukunft."— Und wir wollen die Worte eines unserer grossen Vorkämpfer zur Richtschnur un- seres Lebens machen, die Worte Heinrich Heines:: Rühre die Trommel und fürchte dich nicht! —- P. S. Miniaturen aus der deutschen Emigration in Brasilien Klelngeschichten, die einen gemeinsame* Wachteil (oder Vorzug?) haben: sie sind wahr! In einer Abendgesellschaft entspinnt sielt folgendes Gespräch. Eine reichsdeutsche Kunstgewerblerin: "Eines kann man er- hoffen — das-s der Milreis nach dem Krieg so hoch stehen wird, dass man sich eine billige Reise nach Europa wird leisten können." Ein österreichischer Ingenieur: «Was wollen Sie da besu- chen? Wo einmal Wien, Berlin, Breslau gestanden haben, werden Wüsten sein." Die Erstere: ''Das geniert mich nicht, Ski-Iiaufen wird man immer können." Ein Bildchen nur aus jener Emigration, die einem die Schamröte Ins Gesicht treibt; und die "bürgerlich" zu nennen, eine B»> leidigung des Bürgertums wäre! In einer kleinen Villenstrasse sind zwei nichtarische reichsdeutsche Ehepaare eingezogen. Die Lastwagen vollgepackt mit dem gesamten Hausrat, den Nazi- landia ihnen in seltener Grosszügigkeit mitgegeben hat. Seit dem Tage des Ein- zuges tönt von den frühen Abendstun- den an — brüllend — der Lautsprecher die nazistischen Sendungen in das von Brasilianern bewohnte Viertel. Eine nichtarische Dame aus Frankfurt trifft in Sao Paulo ein, überfällt zuerst die Israelitische Kultusgemeinde mit Ih- ren Zudringlichkeiten, erkennt plötzlich ihre christliche Sendung, wird raisch ge- tauft, fiberläuft von diesem Tage an al- le erreichbaren katholischen Geistliche* der Staatshauptstadt und — richtet an den nazistischen Generalkonsul eine* Brief, In dem sie feststellt, dass sie sie» nicht als Jüdin fühle, die Massnahme* des Führers gegen das reichsdeutsche Judentum verstehe, und dass sie mit Ih- ren bescheidenen Kräften, soweit man ihrer bedürfe, mitzuarbeiten bereit sei. Herr G. W. aus Wien wird zu einem schlichten Pest eines österreichischen Vorortevereines gebeten. Er lehnt ab. Er müsse Rücksicht darauf nehmen, dass seine "arische" Mutter in Wien sei un